Kasseler Dokumentarfilm- und Videofest

dokfest

Zum Programm

Richtung Nowa Huta

Richtung Nowa Huta

Ruinen und modernes Leben: Kaum finden sich wohl so viele urban-historische Widersprüche auf so relativ wenigen Quadratkilometern vereint wie in Nowa Huta. 1949 wurde die polnische Stadt außerhalb von Krakau als sozialistische Modellstadt und Zentrum der Stahlproduktion errichtet. Ende der 1980er Jahre entwickelte sie sich zu einem wichtigen Zentrum der Solidarność-Bewegung. Heute, mehr als 20 Jahre nach der Wende, arbeiten immer noch 5.000 Menschen im Stahlwerk und 280.000 Einwohner/innen, die es noch nicht weggetrieben hat in den vielversprechenden Westen, leben in dem Ort.

Zwischen sozialistischer Vorzeigestadt und wichtigem Industriestandort entspann sich die Bedeutung von Nowa Huta nach dem Zweiten Weltkrieg. Für dieses Spannungsgefüge der verschiedenen Identitäten findet der Filmemacher eindrückliche Bilder und Schauplätze: ein Industriegelände, das von Jugendlichen als Rennstrecke missbraucht wird, eine Ruine als Kulisse für Hochzeitsfotos, ein „Crazy Guide“, der im schwarzen Trabbi Touristentouren aus anderer Perspektive anbietet.

Teilweise bleiben diese Szenen nicht mehr als ein Streifbild, teilweise verweilt die Kamera länger und der/die Zuschauer/in erfährt über die Erzählungen der Bewohner/innen, was sie in ihrem Alltag bewegt. Zum Beispiel die Gewalt im Sportstadion, von der ein paar Jugendliche berichten und dass man besser vormittags auf den Sportplatz geht. Oder die Änderung der Straßennamen, die symptomatisch ist für den Übergang vom Sozialismus zur Sozialdemokratie. Dazwischen findet der normale Alltag statt: Schule, Tanzunterricht, Schachspiel, Nachtclub, Fitnessstudio, Open-Air-Gottesdienst. Dabei lässt sich der Film viel Zeit in langen, statischen Einstellungen ebenso wie in den Geschichten, die oft einfach über unkommentierte Beobachtungen erzählt werden.

Der Film kommt mit erstaunlich wenig Archivmaterial aus, erzählt er doch immerhin die Geschichte der Stadt. Lediglich wenige Fotos sind zu sehen sowie – ganz am Schluss – Videoaufnahmen von den Solidarność-Auseinandersetzungen mit der Polizei kurz vor Ende des Kalten Kriegs. Dariusz Kowalski, der die Stadt selber als Jugendlicher verließ und diese nun mit dem distanzierten Blick des Fremden betrachtet, zeigt sehr anschaulich anhand der aktuellen Bilder und Schauplätze die Spuren der Vergangenheit auf.

Donnerstag, 01.01.1970 um 12:45 Uhr, Filmladen
  • Österreich
  • 78:00 Min.
  • Regie: Dariusz Kowalski
  • Production: Manfred Neuwirth
  • Kamera: Martin Putz
  • Schnitt: Dieter Pichler
  • Ton: Gailute Miksyte, Sabine Maier
  • Sprache: diverse
  • Untertitel: deutsche
  • Jahr: 2012