Werkschau Kasseler Filmkollektiv
Programm 1 – Schuss-Gegenschuss


(BALi Kinos)

Der Jugendhof Dörnberg, eine außerschulische Bildungseinrichtung des Landes Hessen in der Nähe von Kassel, galt in den 1960er Jahren als eine der progressivsten der Bundesrepublik. Hier wurden ab 1967 auch Filmseminare durchgeführt. In diesem Kontext begann unter anderem Adolf Winkelmann, damals Fotografiestudent an der Werkkunstschule Kassel, experimentelle 16mm-Filme zu drehen. Sehr bald zählte er zu den bekannten Namen des „Anderen Kinos“, der unabhängigen Filmbewegung Ende der Sechziger. Für seine drei ersten Filme – 31 SPRÜNGE, ADOLF WINKELMANN, KASSEL, 9.12.67, 11.54H und ES SPRICHT: RUTH SCHMIDT – erhielt er bei der Mannheimer Filmwoche 1968 den Josef-von-Sternberg-Preis als Preis für den eigenwilligsten Film. Die auf die Spitze getriebene Selbstbezüglichkeit seiner Filme ist typisch für viele Experimente des „Anderen Kinos“, die das Medium selbst in seinen technischen, ideologischen und sozialen Implikationen reflektierten und (bisweilen buchstäblich) auf den Kopf stellten. Viele Filmmacher/innen begaben sich selbst ins Bild und traten damit in eine offensive Beziehung zu den Zuschauer/ innen. Gerne thematisierten sie auch den Herstellungsprozess, etwa durch das Vorzeigen der sonst unsichtbaren filmischen Apparatur. In vielen Filmen hält sich dabei eine interessante Ambivalenz zwischen dem Stolz über die Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel und der kritischen Skepsis gegenüber der dadurch erworbenen Machtposition. In ES SPRICHT: RUTH SCHMIDT lässt Adolf Winkelmann seine zukünftige Schwiegermutter über ihn, den „Jungfilmer“ sprechen. Dadurch entsteht nicht nur ein doppeltes Generationen-Portrait von hohem dokumentarischem Wert, Winkelmann thematisiert gleichzeitig die kinematographische Beziehung zwischen Filmendem und Gefilmter. In MEINE LIEBEN, auf den ersten Blick ein reiner Familienfilm, variiert er diese Idee des reflexiven Portraits in seinem eigenen, gutgelaunten Dortmunder Familienkreis. Ende 1968 ging die Filmarbeit am Dörnberg in einen kollektiven Prozess über, der die in der politischen Bildungsarbeit erprobten Ansätze für die mediale Arbeit fruchtbar zu machen versuchte. Vor allem die am Dörnberg entwickelte Methode der „Selbsterfahrung“ bot sich für eine filmische Umsetzung an. Statt der Belehrung sollte die Konfrontation mit eigenen Vorurteilen eine gesellschaftsbezogene Reflexion in Gang bringen. Man musste die eigene Fratze erst im Spiegel gesehen haben, so der Gedanke, bevor man bereit war, die Gesellschaft zu verändern. DER HÖCHERL ist vordergründig ein wohlgesonnenes Portrait des populären CSU-Politikers Hermann Höcherl, dem das Kollektiv im Sommer 1969 einen Hausbesuch abstattete. Über Politik wurde nicht geredet. Das langjährige NSDAP-Mitglied sollte sich selbst im häuslichen Kontext als Wolf im Schafspelz entlarven. Auf die Idee hatte die Kasseler/innen eine Serie „Herr und Hund“ in der Zeitschrift „Stern“ gebracht, in der der damalige Landwirtschaftsminister sich besonders streng in Sachen Hundedressur geäußert hatte. Seine Absicht sah das Kollektiv als nicht verwirklicht und verzichtete auf eine Auswertung des Films. Mit VERTRAUENDE LIEBE – GLÜHENDER HASS, der auszugsweisen Verfilmung eines Silvia- Heftromans, wandte sich das Kollektiv der Trivialliteratur zu. Indem die Rollen von Herzog, Graf, Gräfin und Komtess von Leser/innen solcher Schnulzenromane selbst interpretiert wurden, sollte ihnen der Abstand zwischen der aristokratischen Scheinwelt des Romans und ihrer realen Lebenswelt sinnfällig werden. Die Aufnahmen wurden am Jugendhof mit Hilfe einer Ampex-Video-Anlage vorbereitet und diskutiert, um anschließend an den externen Drehorten auf 16mm-Film aufgenommen zu werden. Ein in den Film integriertes Interview mit der Erfolgsautorin Edith Pusch unterstrich den analytischen Anspruch dieses sehr vergnüglichen Experiments.

Präsentation: Tobias Hering und Peter Hoffmann

Zu Gast sind Gisela Getty und Adolf Winkelmann.


31 Sprünge / Adolf Winkelmann / 4 Min.

Adolf Winkelmann, Kassel, 9.12.67, 11.54h / Adolf Winkelmann / 8 Min.

Es spricht: Ruth Schmidt / Adolf Winkelmann / 12 Min.

Meine Lieben / Adolf Winkelmann / 6 Min.

Der Höcherl / Kollektiv Büttenbender Schmidt Winkelmann / 25 Min. 

Vertrauende Liebe – Glühender Hass / Kollektiv Büttenbender Schmidt Winkelmann / 29 Min.

(6 Filme, 84 Min.)



Adolf Winkelmann, geb. 1946, aufgewachsen in Dortmund; 1965-69 Staatliche Werkkunstschule Kassel; ab 1967 16mm-Filme und Mitarbeiter am Jugendhof Dörnberg; 1968/69 Mitbegründer des Kasseler Filmkollektivs; TV-Produktionen; ab 1978 Spielfilmregisseur und -produzent, vielfach zu Ruhrgebietsthemen („Die Abfahrer“, „Jede Menge Kohle“, „Nordkurve“ u.a., zuletzt 2016 „Junges Licht“); seit 1979 Professor für Film an der FH Dortmund; zahlreiche Auszeichnungen (u.a. 1968 Josef-von-Sternberg-Preis bei der Internationalen Filmwoche Mannheim)

Gisela Getty, 1949 in Kassel geboren als Gisela Schmidt, zusammen mit ihrer Zwillingsschwester Jutta. Beide studieren Kunst und Fotografie an der Kunsthochschule Kassel und gründen Ende 1968 zusammen mit Gerhard Büttenbender und Adolf Winkelmann das Kasseler Filmkollektiv. 1969 gemeinsame Preisträger/innen der Kurzfilmtage Oberhausen mit dem Film „Heinrich Viel“. Ab 1970 politische Arbeit in Berlin. Ab 1972 sind die „Zwillinge“ als Ikonen der 68er-Bewegung in der internationalen Kulturszene präsent: Rom, New York, Kalifornien. 1991 schließt sich Gisela Getty in München dem von ihrer Zwillingsschwester mitgegründeten „Harem“ um Rainer Langhans an.