Complex Formation

Der entblößte Hintern eines sich abtrocknenden männlichen Akts sorgte in einer Brüsseler Kunstausstellung 1888 für so viel Aufregung, dass dieses Gemälde des Anstoßes „Homme au bain“ [Mann im Bad] schnellstens abgehangen wurde, um ihm keinen weiteren Aufmerksamkeitsraum zu geben. Der gerahmte Blick auf einen nackten Männer-Arsch, den Impressionist Gustave Caillebotte hier dem Fachpublikum bot, war unerhört: Fast so, als ob jemand versehentlich die Badtür geöffnet hat aber beschließt, sich nicht für die Lust am Schauen zu schämen, sondern im Gegenteil einlädt, den sinnlichen Anblick zu teilen. 130 Jahre später besucht eine Mutter mit ihrem Sohn ein Museum in Boston, das vor kurzem und unter viel Gegenwind genau dieses Gemälde für seine Sammlung erworben hat. Die Frau macht einen Schnappschuss mit ihrem Handy. Eine von unzähligen Aufnahmen, die auf ihren Reisen in die USA, wo ihr Kind Kunst studiert, entstehen. Das wie zufällig aufgenommene Foto im Bostoner Museum of Fine Arts zeigt Caillebottes Männer-Akt und im Vordergrund etwas verwackelt den Kopf ihres Sohnes, eingefroren in einer beginnenden Drehbewegung – sich zum „Mann im Bad“ hin- oder abwendend. Da ist er wieder – der unerhörte Blick und die Lust am Schauen, festgehalten von der Mutter wie ein mögliches Indiz. Spannenderweise wählt Guanyu Xu genau diesen Blick, den der eigenen Mutter auf sein Leben, um in seiner Foto- und Video-Installation COMPLEX FORMATION über die permanenten Wegkreuzungen scheinbar unvereinbarer Lebensrealitäten zu sprechen. Ein Blick aus nächster Nähe, der aber für das schwule Begehren ihres Sohnes blind ist. Mit dem privaten Fotoarchiv seiner in China lebenden Mutter verwebt Xu animierte Flugsimulationen durch komplexe Formationen, eine Art gequeerte Kartographie ohne klares Verorten. Aus diesem visuellen Gewebe entfaltet sich die Erzählung, basierend auf Audiomitschnitten von Unterhaltungen zwischen Xu und der Mutter, einer Meisterin der Diplomatie. Mit unglaublicher Redegewandtheit bringt sie Unvereinbares spielerisch zusammen: die „Internationale“ und den TurboKapitalismus, Kunst – aber bitte ohne Politik, Einwanderung ja – Immigrant/ innen eher nein. Frau Xus ideologische Mischtechnik, mit der sie sich in der COMPLEX FORMATION der globalen Unübersichtlichkeit eingerichtet hat, ist die einer Privilegierten. Nicht offen einrichten mit seinem Begehren und den damit verbundenen Politiken kann sich ihr Sohn. Der muss die Räume zwischen den Schnappschüssen nutzen: Die Rückseite von Xus Videoprojektionswand zeigt ein Foto des Künstlers, wie er in der Abwesenheit seiner Eltern das heimische Wohnzimmer in Peking kurzerhand zum Ausstellungsort erklärt für seine Kunst, die die Mutter nicht fotografieren mag. Kerstin Honeit

  • Dauer: 21 Min.
  • Länder: United States / China
  • Sprache: Chinese, English
  • Untertitel: English
  • Produktionsjahr: 2019

  • Regie: Guanyu Xu