Mutzenbacher
Der 1906 anonym erschienene und Felix Salten (u.a. Autor der Vorlage von „Bambi“) zugeschriebene Roman „Josefine Mutzenbacher oder Die Lebensgeschichte einer Wienerischen Dirne von ihr selbst erzählt“ avancierte bereits kurz nach seiner Veröffentlichung zu einem handfesten Skandal. Das drastische Buch, in dem die fiktive Protagonistin rückblickend ihre ersten sexuellen Erfahrungen schildert, die bereits im Alter von fünf Jahren beginnen, schockiert bis heute und gilt nicht nur als „der wohl einzige deutsche pornographische Roman von Weltrang“ (Oswald Wiener), sondern auch als Werk, das auf heute kaum erträgliche Weise den sexuellen Missbrauch von Kindern darstellt, ohne diesem kritisch entgegenzutreten. Die große österreichische Dokumentaristin Ruth Beckermann („Waldheims Walzer“, „Die Geträumten“) nähert sich in ihrem Film dem Buch und seinen Auswirkungen nun in Form einer ebenso spannenden wie ungewöhnlichen Versuchsanordnung: Mittels einer Zeitungsannonce suchte sie Männer im Alter von 16 bis 99 Jahren für eine Verfilmung des Romans. Die Castings mit denen, die sich gemeldet haben, finden in einer ehemaligen Wiener Sargfabrik statt, in der außer einem barock anmutenden Sofa nicht viel steht. Dort nehmen die Herren Platz, lesen aus dem Buch, erinnern sich an eigene sexuelle Erlebnisse und Erfahrungen, beantworten die Fragen der Regisseurin und werden unversehens gezwungen, sich mit den obszönen Schilderungen des Textes auseinanderzusetzen und sich zu ihnen zu positionieren. Auf diese Weise wird aus der Sargfabrik ein gleichsam intimer Ort, an dem vieles gleichzeitig entsteht: Einerseits ein (Frei)Raum des Redens über männliche Sexualität, zugleich aber auch ein Ort, an dem sexuelle Machtverhältnisse mittels einer Casting-Couch hinterfragt und umgekehrt werden. Und zuletzt auch ein anregender Diskursraum über die Lust, Scham, Literatur und deren Grenzen und (verdrängte) Randbereiche. (Joachim Kurz)… >>>
- Dauer: 101 Min.
- Regie: Ruth Beckermann