Kasseler Dokumentarfilm- und Videofest

dokfest

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NO Definition Control! - Deutungshorizonte des Dokumentarfilmischen

Eine Podiumsdiskussion mit Carsten Heinze (Moderation), Ernst-Dieter Lantermann, Grit Lemke, Johanna Schaffer und Thomas Weber 

Was ist eigentlich Dokumentarfilm? Etwa:

Die systematische Aneinanderreihung jahrzehntealter Archivaufnahmen, zur Interpretation des Lebenswerks einer einzelnen, um reflektierte filmische Praxis bemühten Person? Die Montage mit statischer Kamera und Mikrofon aufgenommener Statements einer Gruppe auserlesener Intellektueller zu Wahrheit und Pflicht (in) der Demokratie, allein unterbrochen durch einen Kurzfilm, der nahezu kommentarlos Ziegen auf einer Wiese zeigt? Schwarz-weiß Aufnahmen, die scheinbar von Überwachungskameras stammen und den Off-Kommentar von Wissenschaftler/innen zu Macht und Ohnmacht, Fluch und Segen der Bilder im Kontrollzeitalter visuell ergänzen und (ver)stören? Die Inszenierung von Protagonist/innen, zur originellen Bearbeitung der Themen Globalisierung, Culture Clash, Identitätsfindung? Ja, auch.*

Zuallererst ist Dokumentarfilm jedenfalls ein künstlerisches Massenmedium, dem (zumeist) ein gesellschaftspolitischer Auftrag zugeschrieben wird. Nämlich der, das Wissen über die Welt und deren Zustände in der Abfolge von Bildern und Texten zu dokumentieren und so zu hinterfragen, Diskussionen und bestenfalls Veränderungsprozesse anzuregen.

Wie das in der kreativen Praxis Filmschaffender geschieht, lässt sich – insbesondere im Zuge technischer Innovationen und medialen Wandels – ebenso wenig klar definieren, wie es sich in der theoretischen Auseinandersetzung allgemeingültig fassen lässt. Auf die Perspektive kommt es an. Diskussionen um richtige und unzulässige Praktiken des dokumentarischen Films hinsichtlich propagandistischer, ethisch-moralischer und ästhetischer Aspekte sind in der theoretischen Analyse von Inhalten notwendig verflochten mit historischen, politischen und sozialen Entwicklungen. 

Wie aber bestimmt sich das thematisch „Wichtige“ gegenüber dem „Irrelevanten“, vermeintlich „Uninteressanten“? Und welche Rolle spielt die Darstellungsweise dessen, was filmisch thematisiert wird, für die Interpretation? Inwieweit sind Wahrnehmung und Deutung durch individuelle oder wissensbasierte Perspektiven gesteuert? Und welche Möglichkeiten ergeben sich durch die Reflektion und Ergänzung dieser Perspektiven?  

Das DokfestForum bietet eine Plattform zum Austausch individueller, hier insbesondere wissenschaftlicher Erkenntnisinteressen am dokumentarischen Film. Dabei soll die Vielfalt möglicher Perspektiven und Deutungsweisen dokumentarfilmischer Inhalte und Praktiken deutlich werden. Nicht um Konturen einer unmöglichen Definition zu schärfen, sondern um Relevanz und Potentiale des künstlerischen Dokumentarfilms als eines unter vielen dokumentarischen Bewegtbildformaten im Hinblick auf politische, gesellschaftliche und soziale Prozesse kritisch zu hinterfragen. 

*Die im Text beschriebenen Vorstellungen von Dokumentarfilmen beziehen sich auf folgende Filme im Programm des Dokfestes: 

RICKY ON LEACOCK, Jane Weiner, Donnerstag 15.11., 15:00, Filmladen

ANGRIFF AUF DIE DEMOKRATIE, Romuald Karmakar, Mittwoch 14.11., 17:00, Gloria Kino

LOW DEFINITION CONTROL - MALFUNCTIONS #0, Michael Palm, Freitag 16.11., 15:00, Filmladen

AND WHO TAUGHT YOU TO DRIVE, Andrea Thiele, Mittwoch 14.11., 22:15, Gloria Kino

Freitag, 16.11.2012 Caricatura Galerie
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Carsten Heinze,

geboren 1969, ist Diplom Sozialökonom und promovierte 2007 an der Universität Hamburg, Fakultät Wirtschafts- und Sozialwissenschaften mit einer Untersuchung zu jüdischer und nicht-jüdischer Vergangenheitsbearbeitung anhand autobiografischer Lebenskonstruktionen. Seither ist er Dozent am Fachbereich Sozialökonomie, Fachgebiet Soziologie der Fakultät. Arbeitsschwerpunkte: Medien- und Filmsoziologie (insbesondere Dokumentarfilm), Jugend- und Musikkulturen, Erinnerungskulturen, Biografieforschung. Letzte Veröffentlichung (mit Stephan Moebius und Dieter Reicher): Perspektiven der Filmsoziologie (2012), Konstanz: UVK. Momentan arbeitet er u.a. an der Publikation „Soziologie des Dokumentarfilms – Zur Geschichte und Theorie einer audiovisuellen Gattung“.

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Ernst-Dieter Lantermann

geboren 1945; 1971: Diplom in Psychologie, 1974 Promotion in Bonn, 1978 Habilitation in Aachen. Seit 1979 Professor für Sozial- und Persönlichkeitspsychologie an der Universität Kassel. Mehrere Gastprofessuren im In- und Ausland. 1990/91 Wilhelm-Wundt Professor in Leipzig. 1994 - 1995 Arbeit am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung. Gegenwärtige Forschungsschwerpunkte: Emotion und Handeln in komplexen Handlungsfeldern, Folgen und Bedingungen gesellschaftlicher Exklusion (zus. mit Heinz Bude, Soziologe), Selbstinszenierung mit Stil.

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Grit Lemke

eboren 1965 in Spremberg/Niederlausitz. Nach einer Baufacharbeiterlehre und Arbeit im Theater- und Kulturbereich studierte sie Kulturwissenschaft, Ethnologie und Germanistik in Leipzig. Seit 1993 ist sie freie Journalistin für Printmedien, Online und TV. Promotion in Europäischer Ethnologie. Seit 1991 ist sie bei DOK Leipzig tätig, seit 2010 als Leiterin des Dokumentarfilmprogramms. Von 2001 bis 2003 Auswahlarbeit für das Sheffield International Documentary Festival, seit 1998 in verschiedenen Funktionen für das Festival des osteuropäischen Films Cottbus tätig. Sie kuratierte Filmreihen, darunter die Retrospektive „Spurensuche“ zum 50. Jahrestag von DOK Leipzig 2007, „Crossing 68/89“ in der Akademie der Künste Berlin 2008 sowie „Aufmarsch in Bildern – Die neue Rechte im osteuropäischen Film“ für goEast Wiesbaden 2011. Lehraufträge im Bereich Visuelle Anthropologie, Dokumentarfilm und Kuratieren. Publikationen zum Dokumentarfilm und Mitarbeit an Filmen.

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© Sheri Avraham

Johanna Schaffer

ist seit 2012 Professorin für die Theorie und Praxis der visuellen Kommunikation an der Kunsthochschule Kassel. Sie forscht, lehrt und übersetzt im Feld visueller Kultur und materieller Ästhetiken, meist mit einem queer-feministischen antirassistischen Schwerpunkt, und oft gemeinsam mit Gestalter/innen und Künstler/innen. Vor ihrer Zeit in Kassel hat sie an der Akademie der bildenden Künste Wien gelehrt und dort u.a. an einem Forschungsprojekt zusammen mit Künstler/innen über Chancen und Fallen des Forschungsbegriffs in den Künsten gearbeitet (siehe www.troublingresearch.net).

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Thomas Weber

studierte Germanistik, Philosophie und Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft und promovierte 1992 mit einer Arbeit über deutsche Fernsehkrimis. 2006 habilitierte er in Kultur- und Medienwissenschaft mit einem Buch über futurische Medien im Kino („Medialität als Grenzerfahrung“) und war u.a. wissenschaftlicher Mitarbeiter am Haus des Dokumentarfilms in Stuttgart. 2011 wurde er als Professor für Medienwissenschaft an die Universität Hamburg berufen mit den Schwerpunkten Film und Fernsehen. Seit 2012 leitet er im Rahmen des DFG Forschungsprojekts „Geschichte des dokumentarischen Film in Deutschland 1945 – 2005“ das Teilprojekt „Themen und Ästhetik des dokumentarischen Films“.