VORWORT AUS DEM KATALOG DES 38. KASSELER DOKFESTES 2021
„Zurück ins Kino“ – unser optimistischer Slogan aus dem letzten Jahr, wurde genau 15 Tage vor der geplanten Eröffnung des 37. Kasseler Dokfestes durch den zweiten Lockdown komplett ausgebremst. Dennoch konnten wir den überwiegenden Teil des Programms mit dem Angebot der DokfestStreams und DokfestChannels einem bundesweiten Publikum online zugänglich machen. Aus dieser Erfahrung heraus war für uns bei der Planung der aktuellen Ausgabe schnell klar: Wir werden ein hybrides Angebot für möglichst viele Sektionen schaffen. Im Zentrum sollen dabei die große Leinwand im Kino, die Begegnung unserer Zuschauer*innen mit den Filmemacher*innen und Künstler*innen, sowie der persönliche Austausch stehen. Flankiert wird dies von einem Streamingangebot, welches das Dokfest nicht 1:1 in die Onlinewelt transportieren will und kann, aber die Angebote vor Ort sinnvoll und zeitunabhängig ergänzt. Das ermöglicht Teilhabe für alle, die nicht kommen können oder wollen, oder einfach an der Kinokasse aufgrund des eingeschränkten Kinoraums kein Ticket mehr erwerben können.
Ein reines Streaming-Festival, wie die letzte Dokfestausgabe, ist in der Regel eine kommunikative Einbahnstraße mit einer emotionalen Fehlstelle. Diese Erfahrung führte zu einer Bestandsaufnahme, die mit ihren Fragen wesentlich das aktuelle Erscheinungsbild beeinflusst hat: Welche Erfahrungen haben wir in Zeiten der Pandemie gemacht und mit welchen Realitätsverschiebungen sind wir konfrontiert? Welche Konflikte treten deutlicher zutage? Gibt es neue Sollbruchstellen und Spannungspunkte? Welche Chancen entstehen? Und welche Anleihen aus der Vergangenheit können eine Rolle spielen, um Strategien des Umgangs zu erkennen?
Ein Brückenschlag ergab sich wie von selbst zur Tulpomanie (1633–1637). Die erste umfassende ökonomische Krise in der modernen westlichen Wirtschaftsgeschichte wurde durch Tulpen, die damit verbundene Spekulation und einen damals unbekannten Virus verursacht. Tulpen wurden im 15. Jahrhundert aus dem Mittleren Osten nach Europa importiert. Die Niederlande entwickelte sich zum Zentrum der Tulpenzucht. Die kostbarste und am meisten begehrte Tulpe der damaligen Zeit, die Semper Augustus, wurde in der Hochphase der Tulpenspekulation mit dem Gegenwert eines Hauses bezahlt und von zahlreichen Malern verewigt.
Besonders begehrt war die Semper Augustus wegen ihres weiß-roten Musters, das – so wissen wir heute – durch das Tulip Breaking Virus verursacht wurde. Die Virologin Karin Mölling führt auf spektrum.de dazu aus: „Denn diese Viren führen zu unvorhersehbaren und nicht wiederholbaren Mustern. Man konnte also eine Semper Augustus nicht einfach züchten und bestellen. Die Nachfrage war größer als der Markt – damit stiegen die Preise. Ich vertrete also die Meinung, dass Viren die Auslöser der Finanzkrise waren.“ Letztendlich waren die „schönsten“ Tulpen also nicht reproduzierbar und somit im Grunde wertlos.
In der komplexen Situation der Corona-Pandemie wollen wir optimistisch nach vorne schauen und haben mit der Tulpe ein Sinnbild für positive Ausstrahlung und Schönheit gewählt, anderseits bietet die Tulpomanie die Gelegenheit zur Betrachtung der Veränderung der Gesellschaft durch eine (Viren)Krise. Interessante Parallelen zur aktuellen Situation bieten sich an. Die Börsenkurse erreichten in der Coronakrise immer wieder neue Höchststände und die Spekulationen, insbesondere um den Bitcoin, trieben immer neue Blüten. Andere Branchen leiden unter der Krise. So vernichteten die Niederlande auf Grund der stark eingebrochenen Nachfrage rund 80 Prozent ihrer Tulpenproduktion.
Der Klimawandel und die globale Vernetzung werden die Veränderung und Verbreitung von Viren in der Welt beschleunigen. Pflanzen können als Indikatoren für diese Veränderungen dienen. So reagieren Tulpen auf Umwelteinflüsse und Viren u.a. mit dem genannten Gen Silencing, dem „Stilllegen“ von Genen. Tulpen verfügen über ein zehnmal größeres Genom als Menschen und bis heute ist wissenschaftlich noch nicht genau geklärt, wie es z.B. zum Abschalten von Farbgenen kommt. Ähnlich wie die Tulpen und ihre sensible Reaktion auf die Umwelt und die Veränderungen, können Filme als Gradmesser für unsere Realitäten angesehen werden. Seien es experimentelle, künstlerische oder dokumentarische Ansätze. Viele der insgesamt 220 Filme und 22 Installationen betrachten aus einem eigenen Blickwinkel unsere Gesellschaft und versuchen durch die Annäherung an unsere Wirklichkeiten neue Fragen zu formulieren und bestehende Antworten zu hinterfragen. Manche Arbeiten nehmen dabei einen direkten Bezug zum Erscheinungsbild. Anna Ridler zieht in ihrer Installation MOSAIC VIRUS direkte Vergleiche zu gegenwärtigen Spekulationen um Kryptowährungen, gibt dem sonst unsichtbaren Finanzgebaren ein „Abbild“ mittels dreier Tulpen, deren Entwicklung vom Kurs des Bitcoins gesteuert wird und fragt u.a. nach dem Wert von Natur. Inspiriert wurde das Erscheinungsbild auch durch eine Episode des Films FEAST. Hier erläutert Biologin Katerina Sereti, wie Viren in der Welt der Tulpen übertragen werden und welche Schutzmechanismen diese dagegen selbst entwickeln können.
Eine Vielfalt an Tulpen, nicht nur die bereits erwähnte Semper Augustus, zeigt das Keyvisual und demonstriert somit auch die Vielfalt des Kasseler Dokfestes. Diese setzt sich zusammen aus dem Hessischen Hochschulfilmtag, der Kooperation mit der documenta fifteen, dem Dokfest-Forum, dem neu aufgestellten jungen dokfest, der DokfestGeneration, der Fachtagung interfiction, A Wall Is a Screen und zahlreichen weiteren Veranstaltungen, die in der Zusammenschau ein buntes Bouquet an Formaten und Möglichkeiten ergeben.
Seit 40 Jahren hat der Filmladen Kassel e.V. – der Träger des Kasseler Dokfestes – seinem Publikum ein vielfältiges Programmangebot gemacht, das sich bis heute aus über 8.500 Filmen zusammensetzt und in rund 60.000 Vorstellungen von gut 1,5 Millionen Zuschauer*innen gesehen wurde. Die Stadt Kassel fördert maßgeblich das Kasseler Dokfest und wird ab diesem Jahr auch mit einer beachtlich erhöhten Förderung den eingeschlagenen Weg des Filmladens und seiner Kinoarbeit unterstützen, um den bisherigen überwiegend ehrenamtlichen Betrieb zu professionalisieren und die Übergabe an eine jüngere Generation zu ermöglichen.
Ein doppeltes Lob unsererseits geht in diesem Jahr an die HessenFilm und Medien GmbH. Diese unterstützt mit einer deutlich erhöhten Summe das Kasseler Dokfest und ermöglicht uns u.a. die Mitarbeiter*innen besser zu honorieren. Zudem trägt diese den Zusatz Medien im Namen, hat aktuell die Zeichen der Zeit verstanden und das innovative Konzept der Plattform Cinemalovers in Hessen flächendeckend gefördert. Cinemalovers bezeichnet sich selbst als „eine solidarische VoD- Plattform der Kinos in Deutschland“ und präsentiert seit September 2021 auch das Angebot unserer Festivalkinos BALi, Filmladen, Gloria und (zum ersten Mal) das Onlineangebot des Kasseler Dokfestes.
Für die kreative und gute Zusammenarbeit mit der documenta fifteen und dem Künstler*innenkollektiv ruangrupa danken wir besonders. So werdem u. a. der Hessische Hochschulfilmtag, die Sonderausstellung „Débordements – Überläufe“ sowie die Preisverleihung in diesem Jahr ihr zu Hause im ruruHaus finden. Einen direkten Brückenschlag ermöglicht das von Subversive Film ausgewählt und moderierte Programm „Conjugating the Magnetic Past: Subversive Film at Kassel Dokfest, Vol. 1“.
Unser herzlichster Dank gilt natürlich auch allen Förderern, Sponsoren, Partnern und Unterstützer*innen, sowie den zahlreichen Spender*innen, die das Kasseler Dokfest mit ihrem jeweiligen Beitrag ermöglichen. Danken möchten wir auch den Filmemacher*innen und Künstler*innen sowie Referent*innen, die mit ihren Beiträgen das Kasseler Dokfest inhaltlich ausgestalten und mit ihrer Themenvielfalt medial erlebbar machen. Ein großer Dank geht an das gesamte Team. Auf dem Gruppenfoto ist ein Teil des Kernteams im Gewächshaus Wilhelmshöhe vereint. Die insgesamt über 200 Mitarbeiter*innen ermöglichen Ihnen und uns das diesjährige Dokfest. Die Ausstellungs- und Kinoräume sind aufgrund der Hygienekonzepte durchaus sichere Orte für unsere Zuschauer*innen. Die meisten der Veranstaltungen werden unter Einhaltung der 3G-Regel zugänglich sein. Die Eröffnung sowie die Räume der DokfestConnection sind bedingt durch die räumlichen Begebenheiten und der Nachfrage nur für Geimpfte und Genesene zugänglich. Darüber lässt sich vortrefflich diskutieren, denn (Corona)Viren werden uns vermutlich noch eine Weile begleiten.
Wir wünschen allen Besucher*innen und uns ein
sicheres, vergnügliches, erfülltes sowie an- und
aufregendes 38. Kasseler Dokfest.