40 Jahre Kasseler Dokfest – Replay Drei Programme und eine Medieninstallation
40 Jahre Kasseler Dokfest – Replay Drei Programme und eine Medieninstallation kuratiert von Tobias Hering und Thorsten Wagner Unser Weg zurück in die Dokfest-Geschichte führte durch das Medien- und Papier-Archiv im Festivalbüro und machte auch einen Abstecher in den Keller. Dort waren einige tausend Sichtungs-DVDs und Videobänder und ebenso viele Einreich-Formulare in Kartons eingelagert, weil sich noch niemand getraut hatte, sie wegzuwerfen.
Einerseits hat der Filmarchiv-Diskurs der letzten zehn Jahre dafür sensibilisiert, dass Wegwerfen eine kulturgeschichtlich eher kurzsichtige Lösung für Platzprobleme ist. Andererseits ist klar, dass Aufbewahren nur Sinn macht, wenn auch die Infrastruktur vorhanden bleibt, die eine Nutzung des Aufbewahrten weiterhin ermöglicht und wenn überhaupt ein Interesse an einer solchen Nutzung besteht. Einmal hat das Dokfest den Versuch unternommen, einen Teil der eigenen Geschichte dauerhaft zu archivieren und zugänglich zu machen.
Unter dem Projekttitel „Mediaartbase“ versammelten sich im Jahr 2008 vier Institutionen, die eng mit der jüngeren Medienkunstgeschichte verknüpft sind und bei denen sich relevante Archive angesammelt hatten: das documenta Archiv, das ZKM – Zentrum für Kunst und Medientechnologie in Karlsruhe, das European Media Art Festival (EMAF) in Osnabrück und das Kasseler Dokfest. Mit Mitteln der Kulturstiftung des Bundes zur „Konservierung und Restaurierung von mobilem Kulturgut“ (KUR) sollten ausgewählte Teile der jeweiligen Archivbestände digital aufbereitet und öffentlich (im Internet) zugänglich gemacht werden. Obwohl das Projekt weit gedieh, versandete die Kooperation in der Schlussphase. Der öffentliche Auftritt blieb Stückwerk und der Archivanteil des Kasseler Dokfestes ging schließlich nur temporär online. Das Vorhaben „Mediaartbase“ ging von der Einsicht aus, dass institutionelle Archive als öffentliches Gut wertzuschätzen sind. Gleichzeitig verweist sein Verlauf auf die Schwierigkeit, eine beständige Form dafür zu finden, da Mediengeschichte einem stetigen technischen Wandel unterworfen ist.
Als Element von 40 JAHRE KASSELER DOKFEST – REPLAY interpretiert die von Thorsten Wagner konzipierte Installation LETZTER TRANSFER diesen ambitionierten, aber gescheiterten Versuch einer Öffentlichmachung von Festivalgeschichte in Form einer Verräumlichung. Zu 40 Jahren Festivalgeschichte gehören auch tausende eingereichter Datenträger und mehrere Generationen analoger und digitaler Abspielgeräte, von denen funktionsfähige Exemplare oft nur noch schwer verfügbar sind. Auch über die Langlebigkeit der Datenträger weiß man mittlerweile Genaueres: auf manchen ist auch nach 30 Jahren noch was drauf, andere werden von den für sie entwickelten Geräten nicht einmal mehr „erkannt“. LETZTER TRANSFER ist ein künstlerisch-kuratorisches Feedback zu einer Archivsituation.
Mediengeschichte ist also Technikgeschichte.
Aber nicht nur. Will man mit einem Festival-Archiv wie dem des Kasseler Dokfestes „etwas machen“, muss man Kriterien finden, die eine Auswahl begründen. Dazu haben wir uns mit den thematischen und inhaltlichen Setzungen der Film- und Videoprogramme auseinandergesetzt, die in 40 Jahren in Kassel gezeigt wurden. Auch diese basierten ja auf einer Auswahl, auf Setzungen, auf Diskussionen, manchmal auf Kompromissen (wir selber waren mehrere Jahre Mitglieder der Auswahlkommission Kurzfilm des Kasseler Dokfestes). Wir haben uns auf die 1990er Jahre konzentriert, da sie aus heutiger Sicht eine Dekade einschneidender mediengeschichtlicher, aber auch geopolitischer Umbrüche waren. Diese Entwicklungen haben sich auch in den Kasseler Festivalprogrammen abgebildet.
Unter dem Titel ES FLIMMERT erinnert Programm 1 an die letzte Phase, in der das traditionelle Fernsehen noch das Leitmedium für audiovisuelle und linear übertragene Inhalte war. Es schuf gemeinsame mediale Erlebnisse und regte gesellschaftliche Diskurse an. Gleichzeitig wurde die Qualität von Videotechnik immer besser, sodass auch die unabhängige und künstlerische Produktion von Fernsehbildern immer ausgefeilter wurde. In einer kurzen Phase machte zudem die „(Neo-)Liberalisierung“ des Mediums Fernsehen Hoffnungen, es könne zum Ereignisort einer Gegenöffentlichkeit werden. Damit war die Vorstellung verknüpft, dass die Inhalte, die das Fernsehen in die Haushalte sendete, von den Konsument*innen mitproduziert werden können – bevor das Internet unsere Fantasien von Öffentlichkeit weitgehend okkupierte. So ist das emanzipatorische Medienprojekt eines offenen und nichtkommerziellen Fernsehens zwar medial überholt, das Grundrauschen im Kampf um die mediale Hoheit ist im Internetzeitalter aber mindestens noch genauso laut. Ein markantes Jahr, nicht nur für das Kasseler Dokfest, war 1989 – die Umbrüche in Osteuropa, der Kollaps der DDR, der Exodus über die nun offene (und in Kassel sehr nahe) Grenze.
Schon in den Festivalprogrammen der Jahre zuvor war das Kommende spürbar gewesen, und die gesellschaftlichen und menschlichen Folgen der „Wiedervereinigung“ der beiden deutschen Staaten blieben über Jahre hinaus ein zentrales Thema beim Kasseler Dokfest. Ein wichtiges Filmprojekt dieser Zeit war Thomas Heises 1992 begonnene und 2007 abgeschlossene Trilogie über Halle-Neustadt. Der zum Fernsehritual gewordenen „Chronik der Wende“ setzte Heise eine Langzeitbeobachtung entgegen, in der die Umbrüche als konfliktreicher und langwieriger Prozess begriffen werden. Als der erste Teil herauskam, wurde Heise noch vorgeworfen, den falschen Leuten eine Stimme gegeben zu haben, denn er befragte nicht Soziolog*innen und Lehrer*innen zu den Hintergründen rechter Gewalt und wachsender neonazistischer Strukturen, sondern Neonazis und deutsch-national denkende Menschen. Der zweite Teil dieser Neustadt-Chronik, NEUSTADT (STAU – STAND DER DINGE) lief 2000 auf dem Kasseler Dokfest und machte deutlich, welcher Wert in Heises geduldiger Methode lag. Thomas Heise wird zur Wiederaufführung des Films zu Gast sein und die anhaltende Relevanz der Fragen diskutieren, die ihn seinerzeit umtrieben.
Das Lesen der Festivalprogramme der 1990er Jahre brachte auch in Erinnerung, in welchem Maße diese Dekade von Kriegen bestimmt war. Der Golfkrieg, Krieg und Massaker in Ex-Jugoslawien, das wiederholte Aufflammen der schon seit Mitte der 70er Jahre anhaltenden bewaffneten Konflikte im Libanon. Die heißen Kriege, die am Ende des „Kalten Krieges“ im globalen Maßstab ausbrachen, konterkarierten die trunkenen Bildfolgen von den „friedlichen Revolutionen“ im Osten. Uns erschien markant, wie sehr diese Kriege mit unterschiedlichen Bildpolitiken verbunden waren und wie sie unser Verhältnis zur dokumentarischen Bildproduktion dramatisch veränderten. Da dies wiederum für Film- und Videomacher*innen und damit auch für das Kasseler Dokfest eine akute Herausforderung bedeutete, widmet sich Programm 3 (BILDER. KRIEGE.) diesem bildpolitischen Erbe der 90er Jahre. Zu Gast ist die Künstlerin und Kuratorin Ala Younis, künstlerische Leiterin der Akademie der Künste der Welt in Köln.
Programm 1
40 Jahre Kasseler
Dokfest – Replay: Es flimmert
kleines BALi | Do.
16.11. | 13:00
Programm 2
40 Jahre Kasseler Dokfest – Replay: Neustadt (Stau –
Stand der Dinge)
kleines Bali | Fr. 17.11. | 15.30
Programm 3
40 Jahre Kasseler Dokfest – Replay: Bilder. Kriege.
kleines Bali | Sa. 18.11. | 13:00
Installation
40 Jahre Kasseler Dokfest – Letzter Transfer
Ausstellung Monitoring, Südflügel