199 kurze und mittellange dokumentarische und experimentelle Filme präsentierte das Kasseler Dokfest in diesem Jahr.
Die sechs Mitglieder der Auswahlkommission hatten die Aufgabe, unter mehr als 2.000 eingereichten Kurzfilmen die Trends und Strömungen der aktuellen Filmproduktion zu erfassen. Herausgekommen ist ein Programm, in dem sich vom beobachtenden Dokumentarfilm über abstrakte Animationen, persönliche Essays, queer-politische Musikvideos und künstlerisch-aktivistische Feldversuche, von der Ortserkundung bis zum Familienportrait eine ungeheure Vielfalt der filmischen Auseinandersetzung mit der Realität zeigt.
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Die Komfortzone der eigenen Echokammer wird immer bequemer. Algorithmen versorgen uns mit Filmen, Büchern und Musiken, die wir bestimmt mögen werden und die uns hoffentlich nicht vor den Kopf stoßen. Komplexe Sachverhalte werden in gut konsumierbare 140 Twitterzeichen verpackt, Polarisierung erwünscht. Webvideos haben mittlerweile ihre dem Mainstream angemessene Ästhetik etabliert, wie es auch das Fernsehen mit seinen gängigen Formaten vor ihnen getan hat. News werden sofort auf unsere Bildschirme gepusht, Hauptsache man ist live dabei bevor man überhaupt weiß, worum es geht. Unsere Aufmerksamkeit ist ein begehrtes Gut, das aufmerksame Zuhören und Hinsehen hingegen ist selten möglich. Anders beim Kasseler Dokumentarfilm- und Videofest. Hier wird Raum geschaffen für den Diskurs, Reflektion und Diskussion sind erwünscht. Denn ein Filmfest ist immer ein Ort der Begegnung. Das Publikum begegnet den Filmen, ihren Formen, Gedanken und Protagonist/innen. Die anwesenden Filmemacher/innen wiederum begegnen dem Publikum. Das gemeinsame Nachdenken hat seinen Platz im Kinosaal. Das Besondere der kuratierten Kurzfilmkompilationen ist, dass die Filme untereinander ebenfalls in Dialog treten. Thematisch in Programm gebündelt ergänzen oder widersprechen sie sich, beleuchten ein Sujet aus verschiedenen Blickwinkeln oder führen Aspekte davon in ungeahnte Richtungen fort. Jeder Film hat dabei seine ihm eigene Form der Erzählung und Ästhetik. Ziel der Programme ist nicht, vordergründig und plump kontrovers zu sein, sondern möglichst vielschichtig und überraschend divers. Das Überraschende, Schöne und Bereichernde liegt häufig gerade in dem, was einen zunächst nicht interessiert oder gefällt. Die Stimmen selbst sollen zu Gehör gebracht werden, anstatt über ihre Köpfe hinweg über oder für sie zu sprechen.
Das Spektrum des Kurzfilmprogramms ist also inhaltlich und stilistisch breit gefächert:
In teils filmischen Tagebüchern oder Versuchsanordnungen betrachten die Filmemacher/innen das Wechselspiel zwischen der eigenen Biografie und politischen Systemen (BERUF POLITIKER, DEMOKRATIE VERHANDELN) und historischen Zusammenhängen (TEE IM GARTEN DES EMPIRES). Sie sind Teil des Geschehens in den aktuellen Krisengebieten und verarbeiten diese Erfahrung in filmische Experimente oder klassische Dokumentationen (ÜBER GRENZEN). Die dabei dominanten Themen Flucht und Migration ziehen sich durch einige Programme. Diese Gegenbilder zur offiziellen Berichterstattung sind auch in BILDSCHIRMGEMEINSCHAFT zu finden. BLINDFELD versammelt Filme, die ihre ästhetischen Mittel dafür nutzen, etwas darzustellen, das eigentlich nicht dargestellt werden kann und in ATMOSPHÄREN LESEN wird das Unsichtbare eingefangen. GEBIETSBESTIMMUNGEN hinterfragt, wie Gebiete bestimmt werden
und wiederum selbst prägend sind. BERICHTE VOM ENDE DER WELT erzählt von Zeiten und Orten, die vergangen, verschwunden oder vergessen sind und den Spuren, die sie hinterlassen haben. Die Bedeutung von Architektur im alltäglichen Leben heute untersucht PERMANENTE PROJEKTE. ZEIT, LAND, SCHICHT wird im Rahmen der interfiction-Tagung ZEITMASCHINEN gezeigt und widmet sich den Einschreibungen von Zeit in Böden und Landschaften. In AHNEN AUS DEM ALL verquicken die Filme Altertum, Science Fiction, Mythen, Wissenschaft und Pop miteinander. Was im Innenleben eines Menschen vor sich geht wird in INTROSPEKTIVE nachgespürt. In AUS DER NÄHE kommen die Filme ihren komplexen Charakteren besonders nah. In EGO-DOKUMENTE und VORBELASTET stellen sich die Filmemacher/innen den familiären, psychischen, politischen oder religiösen Vorbelastungen in der eigenen Biografie. PROBEN FÜR DEN ERNSTFALL zeigt auf, wie das Militärische Teil des Alltags wird. DAS HALBE LEBEN hat die tragisch-komischen Verquickungen zwischen Arbeit und der restlichen Zeit im Leben zum Thema, während das LEBEN IST KEINE SEIFENOPER von den großen Gefühlen und der Sehnsucht nach ihnen handelt. Die Matinee stellt mit HOCH HINAUS Menschen vor, die wissen, ihren eigenen Weg zu gehen, während IN KONTAKT BLEIBEN betrachtet, wie Menschen miteinander umgehen und Anteil nehmen. Ein fester Bestandteil des Kasseler Dokfestes ist das Kunst-Programm am Sonntag, das sich diesmal mit der INSTITUTION KUNST auseinandersetzt. Und natürlich KURZ & KNAPP, das Programm mit den ganz kurzen Filmen, die am Mittwochabend ein Feuerwerk der Pointen abfackeln.
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