Künstler*innen, Video- und Filmemacher*innen, Programmierer*innen, (H)A(c)ktivist*innen, Designer*innen, Medien-, Netz-, Natur- und Kulturwissenschaftler*innen sowie andere an einem interdisziplinären Austausch zum Thema interessierte Theoretiker*innen und Praktiker*innen kommen zusammen, um im Rahmen der Tagung in Vorträgen und Präsentationen Thesen und Projekte vorzustellen und zu diskutieren.
Die Ausschreibung und weitere Informationen sind unter www.interfiction.org abrufbar.
Seit 1995 findet die Workshop-Tagung interfiction jährlich als im Rahmen des Kasseler Dokumentarfilm- und Videofestes statt. Als dessen interdisziplinäre Sektion will interfiction Künstler*innen und Wissenschaftler*innen, Theoretiker*innen und Praktiker*innen zu einer Veranstaltung zusammenzubringen, in der gemeinsam das komplexe Spannungsfeld von Kunst, Medien und Netzkultur ausgelotet werden kann. Jedes Jahr wird dazu ein aktuelles Fokus-Thema ausgewählt. Ausgehend von Fragestellungen werden dabei in Vorträgen und Präsentationen Thesen und Projekte vor- und zur Diskussion gestellt, während Workshops und Gesprächsrunden einen konzentrierten Austausch fördern, der über eine Vertiefung und Reflexion hinaus auch weiterführende Perspektiven eröffnen soll.
Die Workshop-Tagung interfiction versteht sich als Forum für den Austausch, die Vernetzung und die Zusammenarbeit von Produzent*innen aus Theorie und Praxis. Die Grundstruktur der Veranstaltung entspricht dem Anliegen, als ein "temporäres Labor" zu funktionieren, also nicht nur Plattform für Ideen und Projekte zu sein, sondern eine direkten und produktive Auseinandersetzung über Fragen und Probleme zu ermöglichen, welche die Teilnehmer*innen in der Arbeit an und mit diesen Ideen bzw. im Rahmen entsprechender Projekte beschäftigen.
Leiterin der Tagung ist Dr.Verena Kuni, Professorin für Visuelle Kultur an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.
interfiction 2022
In diesem Jahr befasst sich die interdisziplinäre Workshop-Tagung für Kunst, Medien und Netzkultur interfiction ein weiteres Mal mit Techniken und Technologien, Formen und Formaten, Imaginationen und Fiktionen, Utopien und Realitäten des mehr-als-menschlichen Zusammen:Lebens. Schon vor der Auftakt-Veranstaltung im November 2021 war klar: dieser Komplex wird uns länger beschäftigen. Ohnehin sind es keine neuen Fragen, um die es hier geht. Sondern vielmehr solche, die sich dringlicher stellen denn je.
Eher sind die Zweifel daran weiter gewachsen, dass Technologien – digitale eingeschlossen – Teil der Lösung sind und nicht, wie schon länger vermutet, einen durchaus massiven Teil des Problemhorizonts ausmachen, der sich von der Ausbeutung terrestrischer und menschlicher, ökologischer und ökonomischer Ressourcen über negative Energiebilanzen bis zur sozialen Toxizität erstreckt.
Gleichwohl – und im Grunde gerade deshalb – lohnt es umso mehr, beharrlich bei der Sache zu bleiben und sich zu engagieren für eine Zukunft, die doch immer in der Gegenwart beginnt. Es muss uns also weiterhin darum gehen, Möglichkeiten des Zusammen:Lebens zu suchen und zu finden, zu denken und zu praktizieren.
Unter welchen Voraussetzungen kann ein solches Miteinander gelingen? Was können wir aus den Praktiken diverser Symbiont*innen lernen, was von der Kunst der Sympoeisis und was aus den Sympoetiken der Kunst? Welchen Beitrag können speziell Letztere leisten, wenn aus SYM:BIO:FICTION(s) Wirklichkeit werden soll?
SYM:BIO:FICTION
SYM? Und jetzt alle: ZUSAMMEN! Dass so etwas noch geht… Aber natürlich – nicht nur, sondern auch und erst recht NACH DER NATUR, ohne die wir in (zu-)künftigen ÖKOLOGIEN wohl werden auskommen müssen. Wobei diese «Natur» sicher schon immer vor allem anderen ein Phantasma und eine Projektionsfläche für Sehnsüchte aller Art gewesen ist – koloniales Begehren eingeschlossen. Was wiederum, so gesehen, auch Bände über das ZUSAMMEN spricht: Welches ZUSAMMEN meint ein Tier, das andere vorzugsweise knechtet oder frisst, die Welt insgesamt gern mit einem großen Buffet verwechselt – und diese Sicht dann durch imaginäre Paradiesgärten kompensiert, in denen alle Arten friedlich koexistieren? Reicht uns – und allen und allem – etwa der Wunsch, dereinst im süßen Jenseits auf wundersame Weise in ebendieser Welt aufzugehen?
Aber, a propos «gehen»: Es geht auch ganz anders. Und zudem heute sicher dringlicher denn je zuvor darum, zu einem ZUSAMMEN zu finden. Eben nicht nur unter Menschen – wenngleich schon das allein eine anspruchsvolle Aufgabe ist und bleibt. SYM meint also in diesem Fall mehr.
BIOS steht immerhin für alles, was lebt und webt – und im Grunde auch für alles, was hierfür notwendig ist. Nämlich für LEBEN.
Wie können, sollen, wie wollen wir das Miteinander von SYM und BIOS verstehen? Können, sollen, wollen wir das selbst definieren und ausgestalten? Manche mögen das für philosophische Fragen halten. Aber dann gibt es doch auch so etwas wie Handlungsbedarf und Handlungsfähigkeit. Sicherlich ist es so, dass Theorie und Praxis häufiger auseinanderdriften. Aber auch hier ist ein Miteinander, ein ZUSAMMEN wohl mehr als erstrebenswert – zumal mit Blick auf die Uhr: Den derzeitigen Bewohner:innen dieses Planeten läuft die Zeit davon.
SYMBIOSE. In der Biologie meint das nicht einfach ein ZUSAMMENLEBEN aller Art und aller Arten. Das beginnt schon damit, dass zunächst nur bis zwei gezählt wird. In einer sich als möglichst exakt verstehenden Naturwissenschaft – in der zudem noch lange das Fehlen verlässlicher Daten über konkrete Formen dieses Miteinanders beklagt wurde, bevor das Forschungsfeld endlich breiter an Bedeutung gewann – verständlich. Vielleicht aber nicht hinreichend, wenn man perspektivisch auch über Artengemeinschaften und Netzwerkbeziehungen nachdenken will?
Erst einmal geht es hier tatsächlich um Nutzen – wenn auch nicht um jenes schnöde Ausnutzen, für das es mit «Parasitismus» längst einen eigenen Terminus gibt. Gleichwohl werden unterschiedliche Spielarten von SYMBIOSEN traditionell über die Vorteile der Partnerschaft für die Beteiligten definiert, die von temporären, aber wiederkehrenden ALLIANZEN bis zu existenziellen ABHÄNGIGKEITEN reichen.
ALLIANZEN, ABHÄNGIGKEITEN, GEMEINSCHAFTEN, NETZWERKE: BEZIEHUNGEN setzen wiederum Handlungsfähigkeit voraus und/oder schaffen sie; mitunter ist sie ohne diese mangelhaft, möglicherweise überhaupt erst durch das Miteinander zu erlangen. SYMBIOSEN sind, so gesehen, Handlungen – weshalb Donna Haraway an dieser Stelle den ursprünglich ebenfalls in der Biologie geprägten Begriff der SYMPOIESIS ins Spiel gebracht hat.
SYMPOIESIS: Zusammenwirken. Auch aus der Perspektive der Kunst klingt das gut – und zugleich, gerade weil es tatsächlich Alltagspraktiken meint, wie ein Gedicht. Nach Lebenskunst, die hier zur Kunst des ZUSAMMEN:LEBENS wird. Das Miteinander produktiv machen. Eine ganz und gar weltliche Schöpfung, die keine Hierarchien und Ausschlüsse kennt, weil sie diese nicht braucht. Die gerade deshalb aber auch kein Paradiesgärtlein ist, sondern Teil der Welt, in der sie statthaben und (DA-)SEIN formen kann.
Lässt sich alles dies nicht nur unter Lebewesen denken, sondern auch für GEMEINSCHAFTEN, für ALLIANZEN, ABHÄNGIGKEITEN, NETZWERKE und weitere BEZIEHUNGEN aller Art, zwischen Organismen, Organen und Organisationen, zwischen Entitäten und Systemen? Tatsächlich hat, Dekaden bevor wir – wiederum von Donna Haraway – lernten, das LEBEN und die Lebensgemeinschaften auf diesem Planeten als technologisch durchwirkte NATUR(‑)KULTUREN beziehungsweise KULTUR(‑)NATUREN zu verstehen, die Kybernetik genau dies zu beschreiben versucht. Und so ist es auch heute eine Biologische Kybernetik, die gemeinsam mit der Bioinformatik auf technologische Entwicklungen für zukünftige ÖKOLOGIEN setzt. LEBEN ALS SYSTEM?
DATIFIZIEREN, BERECHNEN, SIMULIEREN, STEUERN, OPTIMIEREN: In allen Bereichen des LEBENS und des ZUSAMMENLEBENS werden Daten erhoben und verarbeitet, um computergestützte Modellierungen von Lebensformen und -prozessen vorzunehmen. Data-Mining, Mustererkennung, Algorithmisierung, Visualisierung: Verfahren, die ihre spekulativen Anteile hinter dem Anschein apparativer Objektivität und Evidenzerzeugung zu verbergen wissen: sieht man doch, was es ist.
Gilt das auch für das Miteinander, das Ineinander, das ZUSAMMEN? In den kybernetischen Modellierungen von Systemen schaut das gern so aus. Plötzlich diese Übersicht: man muss die Knoten nur verknüpfen, Regler einsetzen, DATIFIZIEREN, BERECHNEN, SIMULIEREN, STEUERN, OPTIMIEREN. Sieht man doch, wie es funktioniert.
THE EVIRONMENT IS NOT A SYSTEM schreibt die Künstlerin und Umwelt-Ingenieurin Tega Brain und weist mit guten Argumenten auf die Risiken hin, die aus den Steuerungs- und Machtphantasieren der Kybernetik entstehen können, insbesondere wenn sie – wie aktuell der Fall – aus der Perspektive mächtiger Konzerne entworfen werden, zu deren Grundnahrungsmittel die im Silicon Valley nach wie vor zelebrierte Kalifornische Ideologie gehört.
DIES IST (NICHT) DIE ZUKUNFT. Sondern im Grunde bereits reale Gegenwart: In und mit ihren Bildern stellen Maschinen – nicht anders als wir es von der Kunst kennen – eigene Realitäten her. Paradiesgärten, in denen nicht nur Beete und Erträge berechnet sind, sondern auch die Pflanzen selbst, die dort wachsen, gewachsen sind und wachsen werden wie in Hito Steyerl Projekt selbigen Titels. Die Frage ist also eher: warum wird Kunst dennoch als Fiktion betrachtet, der Maschine hingegen Glauben geschenkt wie weiland den Orakeln?
Später werden wir uns vielleicht einmal wünschen, eine starke Künstliche Intelligenz möge uns – wie bei Pinar Yoldas – als kulleräugiges Kätzchen begegnen. Wobei wir es besser wissen müssten: Auch das niedlichste Kätzchen ist eine Katze und die lässt das Mausen nicht. Was uns allem voran an unsere eigene Gewohnheit erinnern kann, gern auch mal über den Hunger hinaus Beute zu machen. Und nicht nur das: besser als jede andere Spezies verstehen wir uns darauf, mit anderen ebenso wie mit unseresgleichen grausame Spiele zu spielen. Vor diesem Hintergrund ist eine Katzen-KI immer noch die bessere Option für diesen Planeten.
Sicherlich mag es mitunter so ausschauen, als könnten Maschinen wenn nicht das LEBEN der Zukunft, so doch zukünftige Lebensformen entwerfen. Oder wenigstens zukünftige Variationen auf jene, die es derzeit gibt: Mikroorganismen, Pilze, Pflanzen, Tiere. Aber einmal ganz abgesehen davon, dass diese bislang vor allem in Maschinen oder als Maschinen existieren – und die am LEBEN operierenden Technologien primär darauf ausgerichtet sind, bis dato dominierende Ausbeutungsmechanismen weiter zu optimieren, die Zukünfte doch eher vernichten als schaffen: Ist tatsächlich vorstellbar, dass von Menschen gemachte Systeme zukünftige ÖKOLOGIEN ersinnen, in denen sich nicht am Ende doch wieder alles um den Menschen dreht? Und wenn dem so wäre: Welchen Risikofaktor würde eine KI als ersten entfernen, wenn es um tragfähige, nachhaltige Strategien für das Überleben auf diesem Planeten geht? Oder können wir tatsächlich gemeinsam mit Maschinen darauf hinarbeiten, zu neuen Formen der KO-HABITATION, des ZUSAMMEN:LEBENS zu finden, mit ihnen ebenso wie mit anderen Lebensformen neue SYMBIOSEN einzugehen? Geht es dabei auch um neue Formen der Zusammenarbeit, um ein SYM-poetisches ZUSAMMEN-Arbeiten, das zugleich immer auch Arbeit am Miteinander ist?
Bislang scheinen Fragen wie diese jenseits der Science Fiction vor allem unter den Vorzeichen der Dominanten des nach wie vor andauernden Kapitalozän beantwortet zu werden: DATIFIZIEREN, BERECHNEN, SIMULIEREN, STEUERN, OPTIMIEREN. Dienstbare Bots sowie sonstige Programme, die nach dem System persönlicher Leibeigenschaft modelliert und konfiguriert sind – und obendrein gerne noch als Kundschafter:innen beziehungsweise Datensammler:innen für jene Konzerne funktionieren, die sie hergestellt haben. Wie die Daten genutzt und welche Systeme auf diese Weise optimiert werden, bestimmen im seltensten Fall die Nutzer:innen. Nicht sehr smart das alles, auch wenn es so heißen mag. Oder ist es doch genau umgekehrt: dass wir dann, wenn wir uns als Daten begreifen lernen, endlich bereit für die ANSCHLÜSSE und VERSCHALTUNGEN aller Arten sind?
Wie also könnten wir in unserer Techno-Natur-Kultur zu einem anderen MITEINANDER, zu einem anderen ZUSAMMENLEBEN auf diesem Planeten kommen? Von der SYMBIOSE zur SYMPOIESIS zu einem Pluriversum der SYMBIOSEN: Wie funktioniert CYBORG-ÖKOLOGIE?
Verena Kuni