Anomalie (aus dem Griechischen ανώμαλος, uneben fig.: anormal) bezeichnet eine Störung in einem reibungslos funktionierenden System. Doch wer entscheidet in einer Gesellschaft, was ein funktionierendes Sozialsystem ist, wie Individuen sich innerhalb der „Normalität“ zu verhalten haben, und was eine Systemstörung darstellt?
Diese Fragen bekommen umso mehr Bedeutung, wenn es um die Feststellung von und den Umgang mit psychischen Störungen geht. Sind diese normenabhängige, sozial konstruierte Kategorien oder willkürliche, wenn auch auf wissenschaftlicher Übereinstimmung basierende Meinungen von Expert/innen? Was sind die treibenden Überlegungen und Kräfte hinter der Notwendigkeit und der Art einer Behandlung? Und wie lässt sich, die mit einer diagnostischen Entscheidung einhergehende, ethische Verantwortung mit den Konsequenzen dieser Entscheidung für das Leben der Betroffenen vereinbaren? Regisseur Richard Wilhelmer wirft in ANOMALIE Fragen auf, ohne diese selbst beantworten zu wollen. Er lässt uns über das Thema nachdenken, in dem er uns den promovierten Philosophen und selbst bekennenden „Irren“ Fritz Joachim Rudert vorstellt. Die Kamera begleitet diesen berliner Exzentriker, Gründer des „Lehrstuhls für Wahnsinn“, in seinen Gedankengängen über Normalität, psychische Krankheit und soziale Stigmatisierung.
Rudert wird auch durch die Aussagen renommierter Forscher/innen ergänzt, die Einblicke in die Feinmechanik der – verstärkt durch das fragwürdige Zusammenspiel wirtschaftlicher Interessen und wissenschaftlicher Karriereambitionen geleiteten Konstruktion von Normen – psychischen Störungen ermöglichen. ANOMALIE lässt in subtilen, leisen Tönen erahnen, wie sich der Übergang von der Disziplinargesellschaft (Foucault) zum Herrschaftsregime der Psychopolitik (Byung-Chul Han), in der Konstruktion psychischer Gesundheit und psychischer Störung widerspiegelt.