Der dokumentarische Langfilm bildet traditionell das Herzstück des Kasseler Dokfestes. Über 40 Filme werden in diesem Jahr (2014) während der Festivaltage im Gloria Kino und dem Filmladen präsentiert. Die Sektion umfasst Dokumentarfilme ab einer Laufzeit von 65 Minuten, ein Fokus liegt auf Produktionen aus dem deutschsprachigen Raum.
Ausgewählt wurden die Beiträge zum 31. Kasseler Dokfest aus 487 Einreichungen. Einvernehmliche Kriterien, welche die endgültige Programmauswahl prägen, sind die politische, soziale und kulturelle Relevanz der Themen sowie die filmkünstlerische Bearbeitung der eingereichten Beiträge. Neben klassischen Darstellungsweisen sollen seit jeher durch die Präsentation innovativer Formate vermeintliche Grenzen des Genres sowie die Macht, Manipulierbarkeit und Manipulationskraft der Bilder zur Diskussion gestellt werden. Zudem erhalten Low- oder No-Budget-Produktionen und Nachwuchsarbeiten sowie neue Projekte alt bekannter Filmemacher/innen auf dem Kasseler Dokfest in den Sichtungen besondere Aufmerksamkeit. Denn dokumentarfilmische Schaffensprozesse kontinuierlich zu begleiteten, ist uns ebenso ein Anliegen, wie den Perspektiven mutiger und außergewöhnlicher Projekte eine Plattform zu bieten.
Verantwortlich für die Auswahl zeichnen die Mitglieder der Sichtungskommission, welche sich seit 2009 aus vier Personen mit unterschiedlichen professionellen Hintergründen zusammensetzt. Neben ihrem Interesse am politischen und kulturellen Weltgeschehen und der Neugier auf mutige und unkonventionelle (Lebens-) Geschichten vereint die Gruppe eine cineastische Obsession für den dokumentarischen Film in all seinen inhaltlichen und ästhetischen Gestaltungsformen sowie die Freude an leidenschaftlichen Diskussionen über die besten Dokumentarfilme für das Kasseler Filmfest.
Jedes Jahr besuchen die einzelnen Kommissionsmitglieder diverse nationale und internationale Festivals und Branchentreffs. Hier gilt es sich einen Überblick über neueste Produktionen zu verschaffen und Kontakte mit Filmschaffenden zu pflegen, bevor in den Spätsommermonaten die Gesamtsichtung der jährlichen Einreichungen erfolgt.
Selbstverständlich kann aus der zunehmenden Fülle herausragender Arbeiten alljährlich nur ein Ausschnitt gegenwärtigen Dokumentarfilmschaffens gezeigt werden, der formal und inhaltlich ein möglichst breites Spektrum abdecken und während der Festivaltage ein ebenso breites Publikum erreichen soll.
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Dreiundvierzig ist die Quersumme aus vierhundertsiebenundachtzig. Das ist mathematisch natürlich falsch. Bezogen auf das Langfilmprogramm des 31. Kasseler Dokfestes aber keineswegs unrichtig: Dem Aufruf zur Einreichung dokumentarfilmischer Arbeiten mit einer Laufzeit ab 65 Min. sind in diesem Jahr 487 Filmemacher/innen gefolgt, 43 lange Filmarbeiten werden während der Festivaltage im Filmladen und Gloria Kino zur Aufführung kommen. An der erneuten Rekordzahl der Einreichungen ist besonders beachtlich, dass die Wahrnehmung des Festivals im Ausland stetig steigt und uns immer mehr internationale Produktionen erreichen. Von der ungezügelten Fülle an Themen, Perspektiven und filmischen Bearbeitungsweisen gilt es sich in der Sichtung überraschen, überwältigen, beeindrucken, irritieren und auch verstören zu lassen. Und dann heißt es, aus dem reichen Fundus eine repräsentative Auswahl zu treffen – eine Summe zu bilden, die möglichst einem Querschnitt des Gesamten entspricht. Jeder Film ist das Produkt einer einzigartigen Anordnung von Bildern, Sprache, Ton, Musik. Gleichwohl finden sich in den vielschichtigen künstlerischen Bestandsaufnahmen Verbindungslinien dessen, was die Welt im Kleinen wie im Großen politisch, sozial und existentiell bewegt.
Das Politische erstreckt sich über alle Kontinente: von mutigen Aktivistinnen in Ägypten, über das Entlarven medialer Macht im – sicher nicht nur – estnischen Politzirkus, bis hin zur großangelegten autonomen Selbstverwaltung mitten in Caracas. Ökonomische Krisen werden in Mikrokosmen in Deutschland und Russland seziert. In der Schulbildung wird nach Gründen für die anhaltenden Konflikte im Nahen Osten gesucht. Und unterschiedlichen Tatbeständen beider Weltkriege wird mal akribisch, mal theaterpädagogisch auf die Spur gegangen. Sehr außergewöhnlich beleuchtet THE FOREST diese Steigerungsform Krise – Konflikt – Krieg im Südosteuropa der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In sehr persönlichen Ansätzen offenbart das Politische zunehmend das Soziale – mal bei der nachdenklichen Suche nach Vorortung durch die Erfahrung von Fremdheit (GAZE), mal auf amüsante Weise (TITOS BRILLE). Und auch vor der eigenen Haustür wird gekehrt – mit den Themen Asyl, moderne Stadtplanung und ost-/westdeutsche Geschichte. Das Existenzielle entfaltet sich im Umgang mit Krankheiten, Missbrauch und Tod. Vermeintlich Triviales wie eine Einkaufsstraße in Mexiko, Liebeskummer in New York oder sexuelle Fantasien älterer Menschen werden durch meisterliche Erzählungen im Zusammenschnitt von Bild und Ton zum Erlebnis. Und Kunst an sich? Ihr werden vielstimmige Oden gewidmet – vom intensiven Musikerportrait über den bildgewaltigen Blick in DAS GROSSE MUSEUM, bis hin zum experimentellen Hinterfragen kreativer Schaffensprozesse und ihrer Einflüsse.
Während Michel Gondry sich mit der zeichnerischen Übersetzung komplexer Gedanken befasst, lässt sich anhand von Olivier Peyons HOW I CAME TO HATE MATH die allumfassende, ordnende Macht der Mathematik in unserer Welt nachvollziehen. Dennoch kann und darf ein kuratiertes Filmprogramm niemals das Ergebnis der logischen Folge einer starren mathematischen Formel sein. Gemeinsam mit den Filmemacher/innen sind wir gespannt auf sechs ereignisreiche Festivaltage und ein neugieriges und kritisches Publikum, dem wir Freude und Aha-Erlebnisse beim kreativen (Ein-)Ordnen der einzelnen Beiträge wünschen.
Die Sektion Langfilm wurde über dreißig Festivalausgaben in besonderer Weise von Irmhild Scheuer, einer der Gründerinnen des Kasseler Dokfestes, geprägt. Wir verneigen uns vor ihrem unermüdlichen Engagement und ihrer ungebrochenen Leidenschaft. Und wir sind dankbar, dass wir auf ihre Kompetenz, ihren reichen Erfahrungsschatz und fürsorglichen Einsatz für das gesamte Team, die Filmemacher/innen und das Publikum auch in Zukunft nicht ganz verzichten müssen, weil sie uns weiterhin beratend zur Seite steht und die neue Sektion DokfestGeneration maßgeblich mitgestaltet. Ein Hoch auf Imi!