Monitoring
Die Medienkunstausstellung Monitoring präsentiert bis zu 16 aktuelle (Video-) Installationen von etablierten Künstlern und Künstlerinnen und viel versprechenden Nachwuchstalenten.
Snail Trail – Philipp Artus
Eine Schnecke erfindet das Rad und durchläuft eine kulturelle Evolution der Beschleunigung, um schließlich wieder zu ihrem Ursprung zurückzukehren.
Eine Laser Animation wird um 360° auf eine Säule projiziert, um die der Betrachter herumgehen muss, um dem Lauf der Schnecke zu folgen. Die Projektionsfläche ist aus phosphoreszierendem Material, wodurch die Schnecke eine nachleuchtende Lichtspur hinterlässt.
Die Arbeit ist aus einer intensiven Beschäftigung mit Frühgeschichte heraus entstanden. Dabei ist es faszinierend, wie sich exponentielle Beschleunigungsprozesse auf verschiedenen Ebenen beobachten lassen. Die Evolution der Lebewesen verläuft über 3,8 Milliarden Jahre extrem langsam, bis sie im Kambrium plötzlich „explodiert“. Die Werkzeuge der Menschen entwickeln sich während der gesamten Steinzeit kaum, bis es im Holozän zu einer rasanten kulturellen Entwicklung kommt. Ein ähnlicher kultureller Beschleunigungsprozess lässt sich heutzutage in der Entwicklung des Internets beobachten. Die exponentielle Spirale auf dem Schneckenhaus erscheint, so gesehen, fast wie ein wundersames Augenzwinkern der Natur.
Ein anderes Phänomen, das in der Arbeit aufgegriffen wird, ist der Einfluss der jeweiligen Umgebung auf ihre Lebewesen. In der Animation muss die Schnecke ihre Fortbewegungsart jeweils auf die sich wandelnde Linie abstimmen. Dieses Prinzip lässt sich etwa in Darwins Evolutionstheorie beobachten, in der bei den Arten über viele Generationen Anpassungen an ihre Umweltbedingungen entstehen. Anderseits lässt es sich aber auch im täglichen Leben erfahren, da natürlich jeder Ort das Verhalten und die Kommunikation von Menschen beeinflusst.
Durch die Lichtspuren sehen die Betrachter gleichzeitig was passiert, was passiert ist und was passieren wird. Diese Reflexion über Zeit wird in der endlos zyklischen Struktur der Arbeit weiterentwickelt. Der wiederkehrende Puls aus Licht und Klang erinnert an periodische Phänomene in der Natur, wie Ebbe und Flut oder die Jahreszeiten.
Rainer-Dierichs-Platz 1
Köln 2011 / Laser-Skulptur: Holz, Plexiglas, Stahl, phosphoreszierende Farbe, Laser-Projektor, Computer, Verstärker, 7 Lautsprecher, Subwoofer (02:00 Min.)
Avatare – Tilmann Aechtner
Sie erinnern an Würmer, an hilflose Wesen. Auf einer niedrigen Plattform versuchen drei dieser Wesen scheinbar, sich mit aller Kraft loszuwinden von den Kabeln, die sie gleichzeitig mit Energie und Impulsen versorgen.
Ein Quietschen erfüllt den Raum, es entspringt ganz offensichtlich den Servomotoren in den Gelenken und setzt sich dennoch in der Wahrnehmung des Betrachters als Hilfeschreie der Avatare fest. Tilmann Aechtners Roboter-Objekte winden sich mal aggressiv, dann wieder scheinbar erschöpft in einer vom Zufall bestimmten Bewegungsabfolge, auf einer kniehohen, weißen Plattform den Blicken der Zuschauer ausgesetzt. Die einzelnen Module – die Glieder der Avatare – agieren autonom, folgen ihrer eigenen Logik. Durch die Kombination dieser autonomen Module entstehen einzigartige Choreografien, die es in derselben Konstellation nie wieder geben wird. So kann es durchaus vorkommen, dass die Objekte von der Plattform fallen oder sich in ihren Kabeln verstricken. Der Zufall schafft in diesem Fall die Lebendigkeit, die sich wiederum in den erwähnten „Fehlern“ manifestiert.
Einfache Bauteile, blankes Holz, hier und da noch ein Bleistiftstrich, der vom Bauprozess zeugt: Die Roboter kommen grob und für das Auge unbequem daher. Tilmann Aechtner versucht nicht, die technische Seite der Avatare auszublenden. Er lässt sie bewusst sichtbar, weshalb auch immer wieder die Illusion eines eigenständigen „Lebewesens“ aufbricht. Doch spätestens wenn der Betrachter der Plattform den Rücken zukehrt, wird er vom Fiepen der Motoren wieder emotional erfasst.
Das Zusammenspiel der einzelnen Glieder kann eine Metapher für unser gesellschaftliches Zusammenleben sein: Hier hat das Wirken des Individuums immer Auswirkungen auf das System, beeinflusst die Gesamtheit und sorgt für stetige Bewegung. In ihrem endlosen Kampf gegen die Technik, der sie entspringen, winden sich die Avatare auf der Plattform – sie werden nur dann Ruhe haben, wenn ihnen am Ende des Tages der Strom abgedreht wird.
Rainer-Dierichs-Platz 1
Offenbach 2011 / 3 Roboter-Objekte, Computer, Podest
Our Body is a Weapon – Clarisse Hahn
Politische Auseinandersetzungen werden mit unterschiedlichsten Mitteln geführt. Wenn Worte und Stimmen nicht gehört werden, kommen statt verbaler Mittel körperliche zum Einsatz.
Wie der Körper als Instrument des Widerstands gegen bestehende Situationen eingesetzt wird, ist Gegenstand der 3-Kanal Videoinstallation von C larisse Hahn. Drei Szenarien werden auf drei Monitoren gezeigt: Kämpferinnen und Kämpfer der PKK, die sich im Grenzgebiet zwischen der Türkei und dem Irak auf den Kampf vorbereiten, weibliche politische Gefangene, die in einem türkischen Gefängnis in den Hungerstreik traten, und indigene Bäuerinnen in Mexiko, die auf ihre Situation aufmerksam machten und keine Antwort erhielten – bis sie nackt zum Takt von Trommeln durch die Straßen von Mexikostadt zogen.
Die Proteste der Gruppe enteigneter Farmer „Los Desnudos“ wurde mit einem Vergleich beigelegt – eine Entschädigung für enteignetes Land wurde, wenngleich kaum ausreichend, vom Mexikanischen Staat bereit gestellt. Die im Jahr 2000 hungerstreikenden Frauen leiden bis heute an den Folgen und können teils nicht mehr, wie „Prisons“ eindrücklich zeigt, für sich selbst sprechen. „Gerilla“ greift auf Material zurück, das von den kurdischen Rebell/innen selbst gefilmt wurde. Im ersten Teil werden Kämpfer/innen beim „Gerilla“-Spiel, einer Art Fangenspiel beim Waffenpräparieren, Standortwechsel, beim Tanz gezeigt, später folgen Kampfhandlungen. Der zweite Teil ist kurdischen Flüchtlingen aus dem Irak, die in Frankreich leben, gewidmet.
In allen drei Szenarien ist es vor allem der weibliche protestierende, widerständige, kämpfende Körper, der im Fokus der Aufmerksamkeit steht – indem er ohne Kleidung in der Öffentlichkeit tanzt, verborgen vor Blicken anderer im Gefängnis hungert, im halböffentlichen Raum für Kampfhandlungen trainiert, oder als Portrait auf einem Plakat präsentiert wird. Dieser Blick verweist zugleich auf den in diesen Dokumenten unsichtbaren Gegenblick der filmenden Frau – Clarisse Hahn, die sich engagiert mit der Kamera am Körper in einige der Situationen begab und es dennoch versteht, sie mit wohltuender Distanz aufzubereiten.
Gila Kolb
Werner-Hilpert-Strasse 23
Paris 2012 / 3 Monitore, 2 DVD-Player, 1 Blu-ray-Player, 6 Lautsprecher (14:00 Min. / 19:00 Min. / 12:00 Min.)
Tolpa – Francis Hunger
In seiner Installation TOLPA editiert und kommentiert Francis Hunger Filmszenen des sowjetischen Regisseurs Dziga Vertov, eines Zeitgenossen Sergej Eisensteins. In den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts experimentierte Vertov mit den Möglichkeiten der Filmmontage, oftmals zu manipulativen, agitatorischen Zwecken. Die Montage – mehr noch als Schauspielerei, Inszenierung oder Narration – sollte dem Film seine Wirkung verleihen. Zu Vertovs berühmtesten Filmen zählt „Der Mann mit der Filmkamera“ (1929), der das Großstadtleben in der Sowjetunion und dessen Beschleunigung durch damals neue Technologien thematisiert. Für seine Installation verwendet Hunger Originalmaterial aus diesem und zwei weiteren, heute weniger bekannten Filmen des Regisseurs: „Enthusiasmus/ Donbass-Symphonie“ (1930) und „Drei Lieder über Lenin“ (1934), einer Hymne auf den Begründer der Sowjetunion. Hunger montiert ausschließlich Massenszenen aneinander, die er zu folgenden Themen clustert: Stadt, Alltagsleben, Arbeiter, Demonstration, Armee, Trauer.
Im Kommentar der laufenden Szenen, der sich – wie beim Stummfilm – nur in Form eingeblendeter Schriften manifestiert, diskutieren zwei Figuren über verschiedene konzeptuelle Ansätze, ein Bühnenstück über Vertov zu verfassen. Auch diese beiden unsichtbar bleibenden Figuren setzen bei den Massenszenen an, doch diese sind für sie nur der Ausgangspunkt für eine Beschäftigung mit dem Schicksal der russischen Avantgarde zu Beginn des 20. Jahrhunderts sowie damals kursierenden Theorien zwischen Wissenschaft, Utopie und Kunst wie denen der Biokosmisten, die heute nahezu vergessen sind. Über eine Auseinandersetzung mit den künstlerischen und kulturellen Bewegungen dieser Zeit, deren inhaltliches Repertoire und Utopie sich nicht auf Fragen der Ökonomie beschränkte, lässt sich ablesen, wie attraktiv der Kommunismus als Versprechen anfangs auf Menschen unterschiedlichster Milieuzugehörigkeit gewirkt haben muss.
Die Biokosmisten z.B. setzten es sich zum Ziel, die Gerechtigkeit des Sozialismus auch für die Verstorbenen herzustellen, indem man sie wieder zum Leben erweckt. In ihrem Gedankengebäude war der Mensch ein Körper, der beliebig manipulierbar ist, wenn man über eine entsprechend weit entwickelte Technologie verfügt. Im Gegensatz zur Idee der Wiederauferstehung der unsterblichen Seele im Christentum wollten die Biokosmisten unsterbliche Körper quasi museal verwalten. Statt der göttlichen Gnade agierte die kuratorische Hand des Staates. Durch die programmatische Überwindung des Todes wurde die Zeit beherrscht und in Ewigkeit verwandelt – ähnlich wie das von der Avantgarde abgelehnte bürgerliche Museum Dauer herstellt. Wenn jedoch die Ahnen wiederauferstehen ergibt sich naturgemäß ein Platzproblem: Dieses Platzproblem wiederum wurde zum pragmatischen Ausgangspunkt für die sowjetische Raumfahrt und die Überlegungen Konstantin Ziolkowskis, einem sowjetischen Raketenpionier. Sie entstand aus der schlichten Notwendigkeit, neue Planeten zu kolonisieren, auf denen sich die wiederauferstandenen Vorfahren ansiedeln könnten.
Vor dem Hintergrund der Diskurse dieser Zeit geht Hunger der Frage nach, warum und wie die Avantgarde, die einst enthusiastisch für die russische Revolution eintrat, von Stalin kaltgestellt wurde. Die Kunst der Avantgarde als Instrument für die staatliche Propaganda erwies sich als nicht verständlich genug – im Gegensatz zum 1934 proklamierten sozialistischem Realismus – und so wurden Ressentiments gegen jede Form von künstlerischem Experiment geschürt.
Fabian Saavedra-Lara
Rainer-Dierichs-Platz 1
Leipzig 2012 / 2 Video-Projektoren, Monitor, 3 DVD-Player, 3 Siebdrucke, Objekt, Sockel (22:00 Min. / 10:00 Min.)
A Tale of Two Islands – Steffen Köhn, Paola Calvo
Am 31. März 2011 wird die kleine Insel Mayotte im indischen Ozean zum 101. Département Frankreichs und offiziell zu einem Teil Europas. Seit diesem Tag verläuft eine neue Außengrenze der EU zwischen Mayotte und Anjouan, der Nachbarinsel, die zur Union der Komoren gehört. Beide Inseln waren lange Zeit Teil des französischen Kolonialreichs. In der afrikanischen Aufbruchsstimmung der 1970er Jahre, als viele ehemalige Kolonien sich den Weg in die Unabhängigkeit erkämpften, wurden auch hier Volksabstimmungen organisiert. Anjouan entschied sich für die Unabhängigkeit. Mayotte entschied sich für den Verbleib beim „Mutterland“. Mayotte ist Europa „under construction“. Der Prozess der Eingliederung der ehemaligen Kolonie in den französischen Staat ist noch in vollem Gange. Auf Anjouan sind die Überbleibsel des Kolonialismus schon längst wieder von wilder Natur überdeckt. Die postkolonialen Machtungleichheiten jedoch sind noch überall zu spüren.
Die Bewohner beider Inseln teilen eine sprachliche und kulturelle Identität und sind durch komplexe Verwandtschaftsbeziehungen miteinander vernetzt. Mittlerweile ist die Grenze jedoch schwer bewacht und die Bewohner Anjouans benötigen ein Visum, um sich auf Mayotte aufzuhalten. Viele Anjouanais versuchen deshalb, in nächtlichen Überfahrten auf kleinen Motorbooten, sogenannten Kwassas, unbemerkt auf die Nachbarinsel zu gelangen. Die 2-Kanal-Videoinstallation A Tale of Two Islands von Steffen Köhn und Paola Calvo beschreibt auf zwei sich gegenüberliegenden Leinwänden die postkolonialen Lebenswirklichkeiten der beiden Inseln in genau komponierten Tableaus. In langen dokumentarischen Einstellungen entfalten sich unterschiedlichste Begegnungen in den Häfen der beiden Inselhauptstädte.
Steffen Köhn
Rainer-Dierichs-Platz 1
Berlin 2012 / 2 Video-Projektoren, Computer, 2 Verstärker, 4 Lautsprecher (16:00 Min.)
Nebahats Schwestern – Emanuel Mathias
Mit seiner Videoinstallation begibt Emanuel Mathias sich auf die Suche nach einer fiktiven, weiblichen Filmfigur im realen Leben. Dabei verhandelt er im Grunde Ab-, Vor- und Nachbild eines solchen „Charakters“ im filmischen wie im übertragenen Sinne und stellt die als gemeinhin gesetzt geltende Reihenfolge dieser Bilder nicht nur mittels ihrer Montage in Frage. Seine inhaltlich wie formal überzeugende, komplex angelegte Installation – sie besteht aus einer Drei-Kanal-Videoprojektion, filmischen Interviewsequenzen und einer Fotografie – changiert zwischen Remake und Real Time Movie, zwischen lebendem (tableau vivant) und lebendigem Bild, zwischen Reportage und Rollenspiel und berührt am Rande auch Gender und ethnische Konflikte. Denn NEBAHATS SCHWESTERN basiert einerseits auf authentischen Berichten sowie nachgespielten Filmszenen dreier türkischer, 2010 in Istanbul tätigen Taxifahrerinnen und andererseits auf ausgewählten Sequenzen des Films „¸Şoför Nebahat“ von 1960 sowie einem Interview mit der Hauptdarstellerin. „Şoför Nebahat“ ist mehrmals bzw. in Fortsetzung verfilmt worden, und diese Fernsehfilme aus den 1960/1970er Jahren erfreuen sich bis heute in der Türkei großer Beliebtheit. Sie erzählen die Geschichte einer jungen, sich emanzipierenden Taxifahrerin, die sich trotz ihrer „vordergründig“ männlichen Berufsrolle einschließlich des entsprechenden Habitus stets ihre „unterschwellige“ Weiblichkeit bewahrt und als Frau „ihr Leben meistert“. So ist Nebahat tatsächlich und noch immer ein (medial) präsentes Vor-Bild, an dem in der Türkei kaum jemand vorbei sehen kann.
Für Emanuel Mathias mag die Beschäftigung mit einem so landes- bzw. ortsspezifischen Motiv und Thema während seines vom DAAD geförderten Aufenthaltes 2010 in Istanbul sicher nahe gelegen haben. Mehr noch aber führt er mit NEBAHATS SCHWESTERN konsequent seine bildkünstlerischen Untersuchungen zur tradierten bzw. kulturhistorisch variierenden Bedeutung von Gesten sowie zur Konstruktion von Bilderzählungen fort, welche ihn bereits in seinen sorgsam inszenierten Fotografien beschäftigt haben. Auch Mathias’ neuestes, filmisches Erstlingswerk besticht formal – nun aber über innerbildliche Strukturen von Einzelbildern hinaus besonders durch den professionellen Schnitt, der hier speziell die präzise koordinierte Verknüpfung verschiedenster Bildsequenzen und Zeitebenen meint. So erschließen sich dem aufmerksamen Betrachter dann auch mühelos die audio-visuellen, narrativen Filmstränge, und das Versatzspiel mit den diversen Nebahats gerät an keiner Stelle zur verwirrenden Verwechslungskomödie. Im Gegenteil, sind Parallelen und Interferenzen dieser Nebahat-Bilder doch sehr eindrücklich visualisiert. So gelingt es Mathias, ein ambivalentes, facettenreiches Frauen- und Rollenbild aufzufächern, indem er dessen fast schon historisches Vorbild über seine heutigen Nachbilder thematisiert. Denn am interessantesten erscheint ja das Bild der Nebahat an jenen nicht nur filmischen Leerstellen, die von NEBAHATS SCHWESTERN – sozusagen rezeptionistisch – aufgefüllt werden. Diese Art der „Bildvollendung“ oder auch „Realbildwerdung“ ist faszinierender als jeder Filmheld, der direkt aus der Leinwand heraus den Zuschauerraum betritt – und dennoch im Film auf der Projektionsfläche verbleibt. Wenn eine der von Emanuel Mathias bzw. seiner Mitarbeiterin befragten Taxifahrerinnen (mit demselben Vornamen der Filmfigur) sagt, sie könne die Nebahat spielen, in dem sie das Drehbuch in ihr Leben integriere, sind für einen Moment nicht nur Vor- und Nachbild bzw. Fiktion und Wirklichkeit vertauscht, sondern Realität scheint auch als Film möglich. Mehr noch aber reflektiert der Künstler hier wie beiläufig jenen Effekt, den ein künstlich-künstlerisches Bild tatsächlich für das Leben der Zuschauer/innen und Kunstbetrachter/ innen haben kann.
Silke Opitz
Rainer-Dierichs-Platz 1
Leipzig 2011 / 3 Video-Projektoren, Monitor, 3 HD-Player, Blu-ray-Player, 6 Lautsprecher, 4 Kopfhörer, Fotografie in Leuchtkasten (14:00 Min. / 11:00 Min.)
la la la – Kristin Meyer
Eine junge Frau schläft in einem hohen Bett in der Mitte eines scheinbar geschlossenen Raumes, der mit kleinen quadratischen Modulen gepolstert ist. Widersprüchliche Assoziationen entstehen: Ist die Protagonistin eingeschlossen in einer Gummizelle oder geborgen in einem imaginierten Schutzraum? Als die Schlafende erwacht, beginnt ein alltäglicher Ablauf, welcher jedoch durch surreale und symbolisch aufgeladene Elemente durchbrochen wird. Ein tickendes, goldenes Ei in einem Vogelkäfig fällt in den Blick. Das Ei, klassischerweise Symbol der Fruchtbarkeit und des erwachenden Lebens, wirkt durch die Platzierung im Käfig und die goldene Farbe wie ein rituelles, surreales Objekt. Es folgt eine routinierte Handlung, der morgendliche Toilettengang. Zum ersten Mal blicken wir als Beobachter in das Gesicht der Protagonistin. Ihre rechte Gesichtshälfte scheint entstellt, ihr Auge durch Haut und Vernarbungen bedeckt. Vor der Toilette liegt eine Flöte, im Sitzen greift die Frau danach und beginnt ein Lied zu spielen: „Reality“ (Dreams are my reality).
Die Protagonistin bewegt sich weiter durch den Raum, sie wird konfrontiert mit der Komplexität und Vielschichtigkeit des eigenen Selbst, der eigenen Isolation und dem Verlassenwerden, mit Schizophrenie und Angst, liebevoller Zuneigung sowie der alltäglichen Routine. Schließlich kehrt sie zurück in das Hochbett, und in der ewigen Wiederkehr des Loops bilden die Momente des Einschlafens und des Erwachens die einzigen Fixpunkte. Der Schlaf dauert ebenso lange an, wie zuvor die aktiven Handlungen der Protagonistin im Raum.
Jeder Schritt erzeugt ein unangenehmes, knisterndes Geräusch. Die Künstlerin Kristin Meyer
hat das Bühnenbild und die Requisiten der Arbeit aus Klebeband und Papier geschaffen. Der Originalton blieb dabei unbearbeitet und verweist so auch auf die kreative Schaffenskraft, die mit der Videoarbeit verbunden ist. LA LA LA, der Titel der Arbeit, lehnt sich an eine kindliche Sprache an, die bildlich und in ehrlicher Naivität unsere Welt in Worte fasst. Und so entzieht sich das Geschehen in LA LA LA den rationalen Kriterien und Katalogisierungen, die der Betrachter auf sie anwenden mag. Jedes Wiedererkennen einer vermeintlich vertrauten Routine wird durch verstörende oder irritierende Momente gebrochen. Zwischen Angst und Geborgenheit, Märchenhaftigkeit und Routine verliert sich jede vernunftgeleitete Erklärung. Wo endet die Realität und wo beginnt die Imagination? „Eines Tages wird man offiziell zugeben müssen, dass das, was wir Wirklichkeit getauft haben, eine noch größere Illusion ist als die Welt des Traumes“, so der große Surrealist Salvador Dalí. In der Tradition surrealistischer Künstler und Psychoanalytiker wie Carl Gustav Jung erschafft Kristin Meyer eine Erzählung zwischen Traum und Realität und untersucht die Wechselwirkungen zwischen den Ebenen der Wirklichkeit.
Ann-Charlotte Günzel
Franz-Ulrich-Straße 16
Kassel 2011 / Video-Projektor, HD-Player, MP3-Player, Verstärker, 4 Lautsprecher, Raumobjekt (20:36 Min.)
Die Wand – Hein-Godehart Petschulat
„Hartmut der Handwerker“ ist ein flotter Film, der als Dokutainment vorführt, wie eine Stellwand gebaut wird. Die bewegliche Wand wird an einem Tag vor Ort in einer Galerie errichtet, der Auftrag kommt per Handy. Wie man das aus Baumärkten oder im Privatfernsehen kennt, erklärt Hartmut dem Zuschauer die Vorgänge, unterstützt von einem Moderator aus dem Off. Schritt für Schritt entsteht die Wand vor dem Auge des Betrachters im Zeitraffer. Nebenbei wird vermittelt, wie man mit einem Assistenten umgeht, mit kleinen Witzen die Suppe würzt, die hier fachmännisch zubereitet wird, und wie Musik (Red Hot Chili Peppers, Spin Doctors) die gute Laune und das Tempo steigert. „Das war anstrengend, aber wir sind fertig , bewertet Hartmut die Arbeit und geht in seinen verdienten Feierabend.
Diese Wand steht auch im Ausstellungsraum als Teil der Medieninstallation von Hein-Godehart Petschulat.
Und sie ist Gegenstand eines zweiten Films, diesmal über den (fiktiven) jungen Künstler Michael Karsten im Stil von Reportagen, wie man sie aus Kulturmagazinen von arte oder 3sat kennt. Der Medienkünstler Karsten ist international bekannt geworden, als er während eines Stipendiums in L. A. ausgemusterte Blue Screen-Wände aus den Paramount-Studios als Bilder ausstellte. „The Hidden Everything“ sollte die Projektionsflächen der Träume aus der Traumfabrik Hollywood repräsentieren.
Bereits mit seiner Abschlussarbeit konnte er einen ersten Skandal verbuchen, weil er seine Prüfer durch einen Privatdetektiv überwachen ließ und das Material in „6 Boxen“ präsentierte. Den Prüfern war es freigestellt, ob diese Boxen offen oder verschlossen gezeigt werden sollen. Das kostete ihn zwar die Prüfung, doch konnte er eine der Boxen anschließend an den Sammler-Star Saatchi verkaufen. In letzter Zeit allerdings kämpft er mit einer künstlerischen Krise. Er sucht die Weite, aber seine Gedanken drehen sich im Kreis. Er steht wie vor einer Wand im Kopf und hofft, wenn er diese tatsächlich baut, „die freie Sicht dahinter“ wiederzugewinnen. Das Filmteam verfolgt die Entstehung dieser künstlerischen Arbeit – nicht der Wand. Der Künstler Karsten ist am Ende glücklich, denn: „Da steht jetzt eine Wand hier im Raum, und die ist nicht mehr in meinem Kopf. Die ist jetzt hier. Und ich habe jetzt eine Distanz gewonnen – zu der Wand.“ Die Wand also, die konkret im Ausstellungsraum steht, ist für Petschulat die Schnittstelle für die – ironische – Diskussion um Kunst und Handwerk, um Auftrag und Werk, um den konkreten Gegenstand im Kopf des Künstlers und die Fiktionalität von Kunst, um des Kaisers neue Kleider… – und um das, was Medienformate daraus machen.
Bernhard Balkenhol
Werner-Hilpert-Strasse 8
Leipzig 2012 / 2 Monitore, 2 HD-Player, 4 Lautsprecher, Trockenbauwand (09:15 Min. / 12:43 Min.)
Statues Also Die – Sascha Pohle
Vor einem schwarzen Hintergrund erscheint ein rechteckiges Objekt in Grautönen, kommt langsam näher bis seine Umrisse über den Projektionsrahmen hinauswachsen. Ein weiteres Objekt schwebt von rechts heran, bewegt sich nach hinten und verschwindet. Die lautlosen Bewegungen erinnern an Raumschiffe in der dunklen Weite des Alls. Weitere ähnliche Objekte werden in kurzen Sequenzen von hinten und von vorn präsentiert, sie ziehen vorbei oder drehen sich langsam vor der Kamera. Mit der Zeit scheinen sich in den abstrakten Formen Gesichter oder Körper abzuzeichnen.
In seinem in fünf Kapitel gegliederten 16-mm Stummfilm portraitiert Sascha Pohle leere Verpackungsmaterialien meist elektronischer Geräte, wobei er die skulpturalen Qualitäten der Oberflächenstrukturen, der dreidimensionalen Faltungen und der individuellen Ausschneidungen hervorhebt. Bereits 1959 hatte der Künstler Gustav Metzger die auf der Straße gefundene Kartonverpackungselemente eines Fernsehapparats als Ready- made Skulpturen ausgestellt. Doch Pohle geht in seinen Referenzen noch weiter zurück. Der Titel zitiert den gleichnamigen Film „Les statues meurent aussi“ von Chris Marker und Alain Resnais. In ihrem Schwarzweiß Film von 1953 verweisen Marker und Resnais anhand afrikanischer Skulpturen auf eine Geschichte von kulturellem Diebstahls und Ausbeutung. Darin werden die spirituellen Fetische banalisiert und zur Ware degradiert, sobald sie aus ihrem ursprünglichen kulturellen und rituellen Kontext herausgerissen und in den ethnografischen Sammlungen europäischer Museen präsentiert werden, was sich noch weiter fortsetzt in den unzähligen, für einen westlichen Markt geschaffenen Kopien von „afrikanischem Kunsthandwerk.“
Sascha Pohle übernimmt die stete Kameraführung und dramatische Beleuchtung der filmischen Vorlage, kehrt die Bedeutungsverschiebung jedoch um indem er den industriellen Verpackungsmüll der heutigen Warenfetische präsentiert, als wären es archäologische Fundstücke oder ethnografische Kunstgegenstände in einem imaginären Museum. Die Wegwerfprodukte werden reanimiert, neu bewertet, und selbst fetischisiert; ihre konkaven und konvexen Formen erinnern an afrikanische Masken, Totems oder präkolumbianische Statuen. Pohle ist interessiert an Fragen nach Authentizität und Exotismus, Original und Kopie, und bedient sich dabei verschiedenster kunst- und filmhistorischer Referenzen. STATUES ALSO DIE beschäftigt sich mit der Bedeutung von „Fetisch“ in unterschiedlichen kulturellen und ästhetischen Kontexten. Was bleibt von einem Gegenstand, wenn er seines Inhalts beraubt ist? Auf was bezieht sich eine bloße Formgebung? Und was lesen wir in einer Gestalt, einer Form oder einem Gegenstand – beziehungsweise seiner leeren Hülle?
Eva Scharrer
Rainer-Dierichs-Platz 1
Düsseldorf, Amsterdam 2012 / 16mm-Projektor, 16mm-Loop-Vorrichtung, Projektorentisch (08:20 Min.)
A Ripe Volcano – Taiki Sakpisit
Bangkok im Mai 1992. Tausende Menschen versammeln sich in den Straßen der Stadt und ziehen zu den Verwaltungsgebäuden der kürzlich an die Macht getretenen Regierung. Dort fordern sie das Wahlversprechen ein, das nicht gehalten wurde, denn statt eines zivilen Staatsoberhauptes wurde General Suchinda zum Premierminister ernannt. Dieser lässt die bislang friedliche Demonstration unter Einsatz des Militärs zerschlagen. In den kommenden drei Tagen entwickelt sich die Auseinandersetzung zu einem Straßenkampf. Einige Demonstranten flüchten sich in das Rattanakosin Hotel.
Die langen Flure des Hotels liegen verlassen da. Langsam tastet die Kamera Räume und Gegenstände ab. Es knackt und knistert, Sirenen heulen auf, durch ein Fenster fällt grelles Licht. Es bleibt unklar, was geschehen ist und zunehmend auch, an welchem Ort man sich befindet. Die Schritte werden vorsichtig, denn es scheint Gefahr zu drohen. Das zeitliche Erleben changiert zwischen dem, was geschehen ist, und dem, was kurz bevor steht und vereint somit Erinnerung und Erwartung zu einem tiefgreifenden Gefühl der Anspannung und Ungewissheit.
In eindringlichen Bildern zeichnet Taiki Sakpisit in A RIPE VOLCANO Stimmungsbild einer Nation, in der eine unbestimmte Vorahnung einhergeht mit posttraumatischer Starre. Szenen von Ritualen in Schulen, bei Militär und Sportereignissen deuten auf einen Moment hin, in dem die Stimmung umschlagen wird und sich die Anspannung im bedrohlichen Ausbruch entlädt. Orte und Menschen geben Zeugnis einer traumatischen Vergangenheit, die sich in das kollektive, emotionale Gedächtnis eingebrannt hat und zugleich auf eine unsichere Gegenwart hinweist. Den Kampf trugen andere aus, und doch werden nicht zuletzt auch die Zuschauer ein Teil dessen, denn bis zuletzt löst sich die Anspannung nicht. Jeden Moment könnte die Welle über das Land hinweg spülen, noch aber ist die Brandung ruhig und gleichmäßig.
Beatrix Schubert
Rainer-Dierichs-Platz 1
Bangkok 2011 / 2 Video-Projektoren, 2 HD-Player, Verstärker, 2 Lautsprecher (15:00 Min.)
I can. You can. – Marko Schiefelbein
Eine junge Frau sitzt auf einem Sofa, fokussiert ihr Gegenüber – oder die Kamera – und beginnt zu sprechen. Wie in einer Motivationsübung stellt sie sich und ihre Stärken dar. „Ich weiß, wer ich bin. Was ich will. Wo ich stehe. Ich weiß was ich kann. Ich denke ich kenne mich selbst. (I know who I am. What I want. Where I stand. I know what I can do. I think I know myself.)“ Selbstbewusst und überzeugend entwickelt sie ihren Monolog von Selbstbeschreibungen, wechselt in ein Glaubensbekenntnis an ihren Weg, an das Glück, an ihren Erfolg, und behauptet schließlich: „I can. You can.“ Als wolle sie sich selbst faszinieren, antreiben, Mut machen, insistiert sie, wechselt die Perspektive und sieht sich „auf einer aufregenden Reise (in an exhilarating journey).“ Sie steigert sich in ihre Erzählung hinein, ein Stichwort gibt das nächste und verliert an Bodenhaftung, stellt alles-versprechende Erfolgsregeln auf – und stolpert, denn zunehmend tauchen Widersprüche auf. „Um die Beste zu sein, musst du getrieben sein. Ich mache meine Angst zur Stärke und gebe nicht auf. Ich kann hier sitzen und die Scheiße über mich ergießen lassen oder mich zurück ans Licht kämpfen. (To become the best, I must be driven. Turn my fears into strength. And never give up. I can sit here and get the shit shaken out of me or I can fight my way back into the light.)“ Sie wird zum Alles und Nichts, ist Wissen und Ignoranz, Krieg und Frieden, um schließlich festzustellen: „Ich bin die Erste und die Letzte, wieder und wieder. (I am the first and the last. Again and again.)“
Wem sagt sie das alles eigentlich? Und was ist die Basis dafür? Und was der Gegenstand?
Trotz so viel Engagement und persönlicher Ansprache spürt man bald, dass alle Überzeugungen nur leere Versprechungen sind, ideologische Wort- und Begriffshülsen. Der Monolog entpuppt sich als eine Collage fragmentierter Werbesprüche, die die Protagonistin zur Getriebenen macht – ein Opfer, das sich selbst motivierend durchkommen will.
Bernhard Balkenhol
Werner-Hilpert-Strasse 8
Braunschweig, Berlin 2012 / Video-Projektor, HD-Player, Verstärker, 2 Lautsprecher (07:22 Min.)
antimap – Oli Sorenson
Oli Sorensons Installation ANTIMAP, die er als ortspezifische, künstlerische Reaktion in Kassel verwirklichen wird, ist als Teil eines andauernden Projekts zu verstehen. Der in Montreal lebende amerikanische Künstler entzieht sich der Zuweisung einer klassischen Autorenschaft und bewegt sich in seinem Schaffen zwischen den künstlerischen Disziplinen. In seinen Arbeiten spielen Performance, ebenso wie Malerei, Video- Installation und digitale Kunst eine Rolle. Oli Sorenson tritt nicht nur als Künstler, sondern auch als Autor und Kurator auf.
In ANTIMAP bezieht sich Sorenson auf die ikonischen, exakt 8,7 cm breiten, farbigen Streifen Daniel Burens, welche das Werk des Konzeptkünstlers seit den späten 1960er Jahren auszeichnen. Buren bespielte damit nicht nur klassische Medien der Malerei wie Leinwand oder Textilien, sondern wendete die Streifen auch auf Skulpturen oder die Gestaltung von öffentlichen und privaten Institutionen an. In ANTIMAP werden schwarze und weiße Streifen projiziert. Jedoch benutzt Oli Sorenson hierfür keine zweidimensionale Fläche, wie dies üblicherweise der Fall ist, sondern unterschiedliche dreidimensionale Formen, die an der Wand montiert sind. Die Projektionsoberfläche tritt auf diese Weise aus der Rolle des reinen Bildträgers heraus und wird zum gestaltenden Element: die Streifen werden auf die dreidimensionalen Objekte geworfen und gleichen sich deren Formen an. Oli Sorenson vollzieht nicht nur eine Aneignung und Neuinterpretation der Burenschen Streifen, er kehrt auch die Logik der klassischen „mapping technique“, also der kinematografischen Abbildungstechnik, um. Denn während der projizierte Inhalt unverändert bleibt, ist es der Bildträger, der durch seine Objekthaftigkeit das wahrgenommene Bild verändert. Die entstehende, skulpturale Qualität der Projektion wirkt visuell irritierend und lässt Parallelen zur Op-Art erkennen. Sorenson macht in einem modernistischen Sinne „Kunst über Kunst“ und thematisiert auf selbstreflexive Weise die Medien und Traditionen der Kunstproduktion: Die Beschränkungen durch die Bildmedien werden im Sinne eines Moderne-Verständnisses von Clement Greenberg zum Thema der Kunst. Darüber hinaus übersetzt Sorenson die Position Burens auf technischer Ebene in eine zeitgenössische Form, indem er sich digitaler Techniken bedient. Gleichzeitig überführt sein technisches Setting die ikonischen Streifen in eine Synthese zwischen Aneignung, Medienkunst und skulpturaler Form.
Ann-Charlotte Günzel
Rainer-Dierichs-Platz 1
Montreal 2012 / Video-Projektor, DVD-Player, Papierobjekte
A Kind of Sad Story – Dennis Stein-Schomburg
Eine ziemlich traurige Geschichte: Auf einem Bauernhof will ein Huhn scheinbar keine Eier legen. Der Bauer gibt ihm etwas Zeit, der Erfolg will sich nicht einstellen, da landet das Huhn konsequenterweise im Suppentopf – ein Bauernhof ist ja schließlich kein Tierheim. Kurz darauf bereut der Bauer seine Entscheidung bitter, wird doch das Huhn durch einen erstaunlichen Fund auf einen Schlag rehabilitiert. Es ist eine wahre Geschichte, die Dennis Stein-Schomburg zur Grundlage seiner Arbeit A KIND OF SAD STORY macht. Inspiriert durch Pop-Up-Bücher für Kinder, die beim Blättern dreidimensionale Ausfaltungen entstehen lassen, erzählt der junge Animationskünstler seine Bauernhofgeschichte in einer unkonventionellen Form.
Auf einem Podest im abgedunkelten Raum liegt ein Buch, das die Erzählung in komprimierter Form enthält. Blättert sich der Betrachter durch das Buch, wird Seite für Seite die Geschichte in Reimform auf englischer Sprache erzählt, wobei das erzählte Geschehen in kleinen Animationen auf die jeweils entfalteten Elemente projiziert wird. Das Geschehen wird damit nicht nur plastisch, sondern durch die bewegten Bilder zusätzlich animiert, und hinter jedem Umblättern versteckt sich eine kleine Überraschung. Die Animationen sind millimetergenau auf die aufgeklappten Elemente ausgerichtet, jede Verschiebung würde die Illusion sofort auflösen, weshalb das Buch fest auf dem Podest verankert ist.
Mehrere Wochen arbeitete Dennis Stein-Schomburg (Gewinner des Goldenen Herkules 2011 für „Andersartig“) mit der portugiesischen Künstlerin Maria Carvalho an dem Buch, parallel dazu entstanden die Animationen als kurze Clips in digitaler Cut-out Technik. Erst am Ende, als beide Elemente im Prozess des „projection mapping“ zusammengebracht wurden, zeigte sich, ob das Vorhaben gelingen würde. Die Vermittlung der Geschichte auf unterschiedlichen medialen – der sprachlichen, der dreidimensionalen und der animierten – Ebenen funktioniert vor allem durch die Einteilung des Films in kurze Kapitel. Durch sie kann der Betrachter im Vorgang des Blätterns selbst Tempo und Reihenfolge der Erzählung bestimmen und mit dem Film interagieren.
Filmische Erzählungen jenseits des klar abgegrenzten Screens und einer klar definierten Timeline zu produzieren und zu präsentieren, ist eine wichtige, möglicherweise auch lukrative Aufgabe für zukünftige Filmgenerationen. Und wer weiß, vielleicht haben in einigen Jahren Eltern beim Vorlesen der Gute-Nacht-Geschichte einen Taschenbeamer dabei, der das Erzählte visuell verstärkt und sich flexibel auf die jeweiligen Pop-Up-Bücher einstellen kann.
Lukas Thiele
Rainer-Dierichs-Platz 1
Kassel 2012 / Video-Projektor, Computer, Verstärker, 2 Lautsprecher, Pop-Up-Buch (04:00 Min.)
Das Geld und die Griechen – Florian Thalhofer
Griechenland steckt in der Krise. Und mit den Griechen steckt ganz Europa in der Krise, denn geht Griechenland pleite, droht die Pleite Portugals, Spaniens, Italiens. Der Euro ist bedroht, die Idee des geeinten Europas ist bedroht, es droht ein Unheil apokalyptischen Ausmaßes. Oder? Wie sehen es die Menschen in Griechenland? Wie erleben sie die Krise? Wie kam es zu dieser Krise und wie lebt es sich damit? Wie erleben die Griechen die Deutschen und umgekehrt? Was kann man lernen – oder kann die Krise gar Chance sein?
Der Medienkünstler und Filmemacher Florian Thalhofer und seine Partnerin, die Griechin Elissavet Aggou, waren Ende 2011 und Anfang 2012 in Griechenland unterwegs. Sie führten zahlreiche Interviews und sammelten Material für ein Korsakow-Projekt. Die dabei entstandenen Interview- Sequenzen Thalhofers bieten einen faszinierenden Einblick in die Gemütslage von Griechen und Europäern. Vom Politiker bis zum Taxifahrer, von der Hotelbesitzerin bis zum Gemüsebauer – Menschen reflektieren ungeschminkt und ungefiltert über Ursachen und Auswirkungen der Schuldenkrise.
Das Material des Dokumentarfilmprojekts floss in verschiedene Formate. Es entstanden ein Korsakow-Film, ein nichtlinearer, regelbasierter Web- Film, eine Talk-Show mit Publikumsbeteiligung, und eine interaktive Mehrkanal Video-Installation, bestehend aus Hauptscreen und vier Satelliten mit ergänzendem Videomaterial.
Die Formate des Projekts, online und offline zu erleben, leben dabei von der aktiven Mitgestaltung des Zuschauers und setzen auf neue Formen der Beteiligung. Dadurch nähert sich der Künstler einem aktuellen vielschichtigen Thema wie dem der Finanzkrise und schafft ein Gesamtbild, das aus vielen Blickwinkeln und Perspektiven besteht.
Goethe-Institut Athen
Rainer-Dierichs-Platz 1
Berlin 2012 / Video-Projektor, 4 Monitore, 5 Computer, Korsakow-System, Steuerung, Verstärker, 2 Lautsprecher
Atemlos – Pim Zwier
Was bleibt vom Leben? Und was davon ist es wert für die Zukunft erhalten zu werden? Die Arbeit ATEMLOS des niederländischen Künstlers Pim Zwier zeigt in stillen, eindrucksvollen Bildern, wie Tiere in der zoologischen Sammlung der Martin-Luther-Universität Halle als Anschauungsobjekte und wissenschaftliche Modelle präpariert und konserviert werden.
Die Videoarbeit wird als dreiteilige Bildkomposition gezeigt. Während das Fell eines Schaf-Exponates gekämmt und vorsichtig verfangene Härchen voneinander befreit werden, werden daneben eine Gruppe Schafe und Lämmer gezeigt, die sich in einem Feld tummeln. Im dritten Teil der Projektion wird ein Fell auf einer sterilen Metallunterlage ausgebreitet und mit einer Flüssigkeit behandelt. Über 2,5 Millionen verschiedene wissenschaftliche Präparate der Sammlung der Martin-Luther-Universität Halle- Wittenberg vermitteln, wie Lebewesen einmal ausgesehen haben und aussehen. In Holzschubladen verbergen sich Insektensammlungen, Nager und anderes Kleingetier. Unzählige Käfer, Heuschrecken und Schmetterlinge, ein Insekt neben dem anderen, exakt und vorsichtig aufgespießt, es zeigt sich eine f ragile Schönheit. Vorsichtig wird das Bein eines Käfers mit einer Pinzette aufgerichtet und naturgetreu angewinkelt neben den Körper des Tieres gelegt. Die Achtsamkeit, die dem toten Tier entgegengebracht wird, scheint angesichts der Wahrnehmung der Tiere im Alltag fast ironisch. In präzisen Filmaufnahmen verfolgt Pim Zwier die Arbeit der Präparatoren, die geduldig und mit einer zärtlich anmutenden Ruhe Fellstücke zusammennähen, ältere Exponate entstauben und Glasaugen einsetzen. Funkelnd blicken uns Greifvögel entgegen, die runden Augen eines Rehs und die eines Fuchses. Die bewegungslosen Präparate irritieren, denn sie sehen täuschend lebendig aus. Doch Stille liegt über allem, lediglich die Arbeitsgeräusche und ein leises Surren sind zu hören. Wie in einer Zeitkapsel wird in der zoologischen Sammlung Leben konserviert und scheinbar eingefroren.
ATEMLOS erzählt von der Vielfalt des Lebens, gleichzeitig führt uns Pim Zwiers Werk die Absurdität menschlichen Handelns vor Augen. Die ausgestorbenen und seltenen, die bedrohten und die alltäglichen Tierarten werden liebevoll für die Nachwelt konserviert, denn wer weiß, wie lange es sie noch geben wird. Neben dem nahezu fertiggestellten Präparat eines Schafes sehen wir auf dem zweiten Teil der Projektion lebendige Schafe, die sich eng aneinander drängen. Eine tragische Gleichzeitigkeit: Das präparierte Tier wirkt dabei wie ein Bote seiner Art, ein zukünftiges Relikt. Die Vergänglichkeit, die gleichzeitig Ursache und Gefahr für die Sammlung ist, verdankt sich nicht zuletzt menschlichen Eingriffen in die Natur.
Ann-Charlotte Günzel
Franz-Ulrich-Straße 16
Halle, Amsterdam 2012 / Video-Projektor, HD-Player, Verstärker, 2 Lautsprecher (10:01 Min.)
Grenzen – Simona Koch
Lebewesen hinterlassen Spuren durch ihre bloße Existenz – die Wege, die sie beschreiten, die Handlungen, die sie ausüben – und beeinflussen dabei das Leben anderer Organismen. Sie neigen dazu, ihr Revier abzustecken oder, wie der Mensch, Grenzen zu ziehen. Staatsgrenzen beschreiben die Ränder von Herrschaftsgebieten. Eine Grenze bedeutet immer auch ein Ein- und Ausschließen, und wirkt sich auf politische, soziale, kulturelle und wirtschaftliche Faktoren aus.
Das Verschieben von Grenzen geschieht meist durch Kriege und geht einher mit Blutvergießen, mit menschlichen und ökologischen Tragödien. Vertriebene und Flüchtlinge verlieren ihre Heimat, ihre Wurzeln und geliebte Orte. Folgen für die Natur können Abholzung ganzer Landstriche sein, wie die Geschichte der spanischen Armada im 16. Jahrhundert zeigt. Das halbe Land wurde damals abgeholzt, um eine Seeflotte aufzubauen, mit der man England erobern wollte. Legenden besagen, dass in den Zeiten davor ein Eichhörnchen von den Pyrenäen bis nach Andalusien gelangen konnte, von einem Baum zu Baum springend, ohne den Boden zu berühren. Aber auch der Verlust der kulturellen Wurzeln geht mit Grenzkonflikten einher – selbst viele Generationen später sind die Spuren der Grenzverschiebung noch spürbar.
Diese Spuren werden durch eine Serie von Video-Animationen visualisiert. Die Verschiebungen der Grenzverläufe unterschiedlicher Weltregionen wurden erst anhand von historischem Kartenmaterial recherchiert. In der Animation werden die Grenzen dann mit Bleistift auf ein leeres Blatt gezeichnet, immer wieder ausradiert und chronologisch durch die folgenden, bis zum heutigen Tag neu gezogenen Grenzlinien ersetzt. Der Blick im Zeitraffer von oben lässt die Menschheit wie eine Schar Borkenkäfer erscheinen, die sich durch die Welt gräbt. Am Ende werden auch die aktuellen Grenzen ausradiert – was übrig bleibt, ist die vage Form der jeweiligen Weltregion, lediglich angedeutet durch ein verblassendes Netzwerk verschmierter Linien.
Simona Koch
Rainer-Dierichs-Platz 1
Berlin, Neustadt an der Aisch, 2010 – 2012 / 4 Monitore, 4 HD-Player (01:40 Min. / 01:40 Min. / 01:35 Min. / 02:00 Min.)
Triangular Stories – Henrike Naumann
Paul, Friedrich und Lou; Werther, Albert und Lotte; Jim, Jules et Catherine: Das Motiv der Dreiecksbeziehung kehrt im gesellschaftlichen Leben, in Literatur und Film immer wieder und beflügelt die Fantasien der Geschichtenerzähler, Regisseure, Romanciers, Reporter und Biografen. Ein Trio und dessen Geschichte beschäftigt derzeit die Staatsanwaltschaft und die deutschsprachigen Medien: Uwe, Uwe und Beate. Die drei Rechtsradikalen, die zehn Jahre lang in Zwickau im Untergrund lebten und denen derzeit zehn Morde an in Deutschland lebenden und arbeitenden Menschen vorgeworfen werden, stehen im Mittelpunkt der Installation von Henrike Naumann. Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt sind tot; ein Prozess gegen die überlebende Beate Zschäpe ist in Vorbereitung. Zu vermuten steht hinsichtlich der aktuellen Aktenlage jedoch, dass es mehr Lücken als Erzählstränge des letzten Jahrzehnts hinsichtlich der Tätigkeiten der unter „Nationalsozialistischer Untergrund“ firmierten terroristischen Gruppe geben wird, das Schweigen der Angeklagten vorausgesetzt. Neben den Taten selbst steht das Fehlen oder vielmehr das Vernichten von Unterlagen – sei es durch Täter oder Ermittlungsbehörden – im Zentrum des öffentlichen Interesses.
Hier setzt TRIANGULAR STORIES ein: Was, wenn sich Beate, Uwe und Uwe aus Jena (später bekannt als „Zwickauer Terrorgruppe“) nicht nur gegenseitig gefilmt, sondern sich diese Homevideos auch noch erhalten hätten? Und was haben wir, die Generation Post-Golf, eigentlich gemacht zu dieser Zeit?
Es sind zwei Filme entstanden: einer im Kontext von Jena, ein anderer im Kontext von Ibiza. Unbeschwert sind beide nicht. Das unter diesen veränderten Vorbedingungen von Schauspielern nachgespielte, teils auch gefilmte Material verfolgt zwei unterschiedliche Erzählungen mit unterschiedlichen Geschichten an zwei Orten – einzig das Personal bleibt. Zwei Trios, zwei Settings: Ein Film beginnt mit dem Beschaffen des Bildaufnahmegeräts. Die bereits laufende VHS Kamera zeigt zwei Männer und eine Frau, die an einen Tresen treten und sich der Kamera bemächtigen. Seitdem, so suggeriert Henrike Naumanns Erzählung, ist die Kamera bei den Szenen einer Jugend im Jena der 1990er Jahre dabei. In einem Jugendzimmer, auf der Couch unter den angepinnten Postern von Popstars und einer Fahne des Deutschen Reiches lungern Uwe, Uwe und Beate. Sie liest laut aus der Aufklärungsseite der „Bravo“ vor: Kann man schwanger werden, wenn man im gleichen Badewasser wie der zuvor onanierende Bruder saß? Dr. Sommers Antwort bleibt die Vorlesende den Zuschauern schuldig. Die Kamera dokumentiert stattdessen „Sieg Heil!“-Rufe, Zerstörungen in öffentlichen Gebäuden und Räumen, Übergriffe auf Personen und dabei immer wieder die Interaktion zwischen den drei Jugendlichen. Es folgt: Weißes Rauschen.
Im zweiten Teil ist jugendliches Partyvolk der 1990er Jahre inszeniert. Zu dritt im Hotelzimmer und später wird Koks geschnupft, später in der Diskothek knutscht jeder mit jedem, aufgesetzte Coolness in den Gesichtern, Tanzen vor dem Spiegel – bis der Arzt kommt. Henrike Naumann inszeniert sorgfältig Setting und Schauspieler. An beiden Orten scheitern Versuche, Posen einzunehmen, werden Dinge zerstört, Menschen angegriffen. Sei es, dass die Protagonistin auf Ibiza einen pyramidenförmigen Spiegel mit einer Vase zerschlägt, oder in Jena das Verprügeln eines Rollstuhlfahrers die Tränen einer der Täter nach sich zieht. „Amnesia“ heißt eine Großraumdiskothek auf Ibiza in Anlehnung an eine Krankheit, die meist durch den heftigen Aufprall des Kopfes ausgelöst wird und den teilweisen Verlust des Gedächtnisses bedeutet – wenn auch meist nur für kurze Zeit. Eine solche Amnesie lässt die Inszenierung Henrike Naumanns nicht zu. Es folgt: Weißes Rauschen.
Gila Kolb
Rainer-Dierichs-Platz 1
Berlin 2012 / 2 Fernseher, 2 VHS-Player, Einrichtungsgegenstände (15:24 Min.)
TRIANGULAR STORIES ist eine Produktion der Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“ Potsdam-Babelsberg.