Zum Programm

Es gehört zu der aus Überzeugung gepflegten Tradition des Kasseler Dokfestes, das lokale (Kunst-) Geschehen zu beobachten und Verschiebungen sowie Ergänzungen aufzuspüren. Relevante, aktuelle Entwicklungen werden sichtbar und neue künstlerische Positionen aus dem Bereich der audiovisuellen Medien einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Insbesondere mit der Kunsthochschule Kassel ist das Kasseler Dokfest seit Jahren nicht zuletzt durch die Präsentation der Arbeiten ihrer Studierenden eng verbunden. Mit einer Werkschau präsentiert das Kasseler Dokfest folgerichtig in diesem Jahr Jan Peters. Als Professor der Klasse Film und bewegtes Bild begann er im vergangenen Jahr seine Lehrtätigkeit an der Kunsthochschule Kassel und füllt seitdem eine Lücke, die seit vielen Jahren im Bereich der Lehre vakant war.

 

Jan Peters / Biografie:

Jan Peters, geboren 1966, ist Filmemacher, Produzent und Hörspielautor. Er studierte an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg und war dort Mitbegründer des Filmemacherkollektivs „Abbildungszentrum“. Neben seinem Langzeitprojekt ICH BIN..., für das er viele Jahre ausschließlich Super-8-Material verwendete, drehte Peters zahlreiche preisgekrönte Kurz- und Langfilme. Außerdem realisierte er Hörspiele fürs Radio und im November 2011 die Theaterperformance „Ausflug nach Kohlhasenbrück“ am Maxim Gorki Theater in Berlin. Von 2006 bis 2008 war er als Gastprofessor im Bereich Cinéma an der HEAD (Haute Ecole d’Art et de Design) in Genf tätig von 2011 bis 2013 war er Professor für Film und Video an der Merz Akademie in Stuttgart und seit dem Wintersemester 2012 ist er Professor für Film und bewegtes Bild an der Kunsthochschule Kassel. Aktuell produziert er den Kurzfilm HUNDEKOPFTEE von Marie-Catherine Theiler. Ab Herbst 2013 hat er ein Stipendium am CERN, dem Teilchenbeschleuniger in Genf.

 

Chronist des Flüchtigen – Anmerkungen zu den Filmen von Jan Peters.

1990 belichtet der Kunststudent Jan Peters seinen ersten Super-8-Tonfilm. Anlass ist sein 24. Geburtstag. Aus dem eher zufällig entstandenen Selbstporträt entwickelt sich einer der originellsten Zyklen der deutschen Experimentalfilmszene. Über viele Jahre hinweg dreht Peters nun stets an seinem Geburtstag eine Fortsetzung. Diese Filme sind genau so lang, wie eine Super-8-Kassette dauert, also zirka 3 Minuten und werden einfach durchnummeriert. Der Methode haftet etwas Rituelles an. Es gibt keine nachträgliche Montage, die Filme entstehen in Echtzeit in der Kamera, der Ton wird simultan zu den Bildern aufgenommen. Lässt man heute die einzelnen Kapitel Revue passieren, ziehen die Jahre im Zeitraffer vorbei. Interieurs, Kleidungen und Frisuren ändern sich. Ein Kontinuum bildet der Kommentar des Filmemachers: eilig gesprochen, sich fast überschlagend, so als gelte es, möglichst viele Informationen in die knappe, zur Verfügung stehende Zeit zu packen. Dieses offensive In-die-Kamera-Sprechen hat etwas Umarmendes. Als Zuschauer vermeint man, diesen jungen Mann, der von Film zu Film doch sichtbar reifer wird, gut zu kennen. Dahinter steckt natürlich ein Trick, wenn auch ein liebenswerter. Denn die Abfolge der „Geburtstagsfilme“ verrät zunehmende Raffinesse im Umgang mit den filmischen Mitteln. Möge der erste Teil noch „naiv“ in dem Sinne gewesen sein, dass sein Urheber keine rechte Ahnung hatte, was er da eigentlich anstellte, so verschiebt sich in den folgenden Filmen doch die Perspektive deutlich in Richtung Reflexion und Selbstironie. Hier steht mehr und mehr ein Jan Peters vor der Kamera, der zur Kunstfigur überblendet wird, der sich zunehmend in seinen eigenen Avatar verwandelt.

Die frühen Filme von Jan Peters sind temporär-erfolgreiche Rettungsversuche eines filmgeschichtlichen Phänomens. Seinen Zenit hatte Super-8 in den 1990er Jahren längst überschritten. Das Goldene Zeitalter dieses Formats fand in den frühen bis mittleren 1980er Jahren statt – als adäquater Ausdruck von Squatting, DIY-Kultur und Punk. Als unfreiwillig zu spät Gekommener hält Peters nicht doktrinär an einem zusehends überlebten Medium fest. Er eignet es sich schöpferisch an. Indem er mit den Provisorien dieser Technik spielt, macht er aus ihrer Not eine Tugend. Ähnlich verfährt er später mit dem 16mm-Format. Seine beiden Tagebuchfilme NOVEMBER, 1-30 (1998) und DEZEMBER, 1-31 (1999) sind kleine Meisterwerke des formalen Understatements. Sie stellen einen skizzenhaften Charakter aus, verbergen dahinter aber eine Virtuosität, die erst auf den zweiten Blick sichtbar wird. Zunächst erscheinen sie wie aus der Hüfte geschossen, dann tritt aus ihnen eine filigrane Komposition ans Licht, die man leicht übersehen kann, weil sie sich niemals aufdrängt. Wenn einmal eine Geschichte des 16mm-Films geschrieben werden sollte, dann gehören die beiden abendfüllenden Arbeiten Jan Peters’ unbedingt in diesen Kanon.

Spätestens mit Beginn des 21. Jahrhunderts öffnet sich Jan Peters den digitalen Formaten. Damit fallen auch einige seiner Obstruktionen, die sich mit Schmalfilm so gut aufrechterhalten ließen. Warum aber sollte man jetzt noch immer so tun, als ließen sich nur drei Minuten am Stück aufnehmen? Seine Kurzfilme werden länger und vielgestaltiger. Und er dreht 2009 mit Marie-Catherine Theiler endlich einen „richtigen“ Dokumentarfilm, der auch bundesweit in den Kinos zu sehen ist. Es ist selbstredend kein Zufall, dass sich dieser Film mit dem Vergehen von Zeit beschäftigt und damit, wie wir mit diesem fatalen Fakt umgehen können. (Claus Löser)

 

 

Programm 1 – Kurzfilmauswahl

 

Jan Peters über das Kurzfilmprogramm:

In meinen kurzen Filmen erzähle ich meist aus einer radikal-subjektiven Perspektive und beziehe mich dabei gleichzeitig auf die Welt, die mich umgibt. Die Themen können brisant sein, wie zum Beispiel der Umgang der Medien mit dem belgischen Kinderschänder-Skandal in den 90ern (NOVEMBER, 1-31) oder Massenereignisse behandeln, wie die totale Sonnenfinsternis (ICH BIN 33), aber auch ein Blick hinter die Kulissen des deutschen Schauspielhauses in Hamburg ist erlaubt (WIE ICH EIN HÖHLENMAHLER WURDE) oder aktuelle politische Fragen, wie die nach der Zukunft der Arbeitsgesellschaft (WIE ICH EIN FREIER REISEBEGLEITER WURDE) oder die Beschäftigung mit dem Thema „Entschleunigung“ (TIME’S UP, gemeinsam mit Marie-Catherine Theiler). Bei der Themenfindung und beim Drehen lasse ich mich gerne vollständig auf die Situationen ein und interessiere mich sehr für die Lücken zwischen Absicht und Zufall, Privatem und Öffentlichem. Darüber hinaus nehme ich mir die Freiheit zum Assoziieren und verbinde mit Vorliebe biographische Anekdoten mit banalen Beobachtungen und philosophischen oder politischen Reflexionen. Formal findet dies seine Entsprechung in einer Bilder- und Sprachflut, die den Zuschauer nicht nur mitreißen, sondern auch zum Lachen bringen soll.Eingerahmt wird das Programm von zwei Filmen, die sich auf experimentelle Weise mit dem Thema „Filmemachen“ auseinandersetzen: NICHTSEHENNICHTSEHEN und ROADMOVIE.

 

NICHTSEHENNICHTSEHEN

„Die Umwelt, die wir wahrnehmen, ist unsere eigene Erfindung.“

Ausgehend von einem Text von Heinz von Foerster (in „Wissen und Gewissen“) untersucht der Film die These, dass der Blinde Fleck in der Netzhaut des Auges eine lokalisierte Blindheit ist, die „nicht als dunkle Wolke in unserem visuellen Feld wahrgenommen wird (eine dunkle Wolke sehen würde bedeuten, dass man „sieht“), sondern dass diese Blindheit überhaupt nicht wahrgenommen wird, d.h. weder als etwas, das gegeben ist, noch als etwas, das fehlt: Man sieht nicht, dass man nicht sieht, was man nicht sieht!“

Deutschland 1994 / 06:00 Min. / deutsch

Regie: Jan Peters

 

November, 9 – 13

(Aneinanderreihung aller Filme, die vom 9. bis 13. November entstanden sind)

Am 9. November befindet er sich auf der Autobahn und ist auf dem Weg nach Paris. Bei einem Halt auf einer belgischen Raststätte macht er eine zufällige Beobachtung: Ein Mann stopft einen Plastiksack in eine Mülltonne. Das Auffällige an dieser Beobachtung sind die Gummihandschuhe, die der Mann dabei trägt und anschließend auch in die Mülltonne wirft. Jan Peters Neugierde ist so groß, dass er den Plastiksack wieder aus der Tonne holt. Im Sack ist ein Teppich (ohne Blutspuren). Der Sack ist von der städtischen Müllabfuhr Eupen (eine Kleinstadt am anderen Ende von Belgien). Auf dem Weg nach Eupen macht der Filmemacher auf allen Parkplätzen und Raststätten halt und filmt alle Fundstücke. Als er in Eupen ankommt, liegen im Nordteil der Stadt Müllsäcke vor allen Häusern und warten auf die Müllabfuhr.

Deutschland 1998 / 86:00 Min. / deutsch

Regie: Jan Peters

 

Ich bin 33

Seit 1990 stellt sich Jan Peters einmal jährlich vor seine Super8 Kamera und nimmt auf genau einer Rolle Super8-Film (ca. 3 Minuten) eine persönliche Bestandsaufnahme seines Lebens auf. Am 11.08.1999 hat er sich wieder für die Länge genau einer Rolle vor die laufende Kamera gestellt und eine Bestandsaufnahme des vergangenen Jahres aufgezeichnet als ihm plötzlich die Sonnenfinsternis dazwischen kommt. Das Leben hat eben Licht- und Schattenseiten, besonders wenn man versucht, gegen ein Naturereignis anzureden.

Deutschland 2000 / 03:00 Min. / deutsch

Regie: Jan Peters

 

Wie ich ein Höhlenmaler wurde

Jan Peters Tagebuchfilm über seine Zeit als Bühnenbild-Hospitant im Deutschen Schauspielhaus in Hamburg. Während der Hospitanz bekam er plötzlich starke Schmerzen im Knie und konnte kaum noch laufen. Mit einigen Schmerztabletten intus humpelte er eines Abends auf eine Feier im Schauspielhaus. Der Alkohol, den er auf die Tabletten schüttete, löste Wahrnehmungsstörungen mit Zeitverschiebungen aus und er fragte sich plötzlich: Wenn er ein prähistorischer Mensch mit Knieschmerzen wäre, würde er dann nicht von seinem Stamm ausgeschlossen werden, weil er nicht mehr beim Jagen und Sammeln helfen kann? Einzige Lösung: dem Stamm anbieten, die Höhlenmalereien zu besorgen und dann dafür durchgefüttert zu werden.

Deutschland 2001 / 20:00 Min. / deutsch

Regie: Jan Peters

 

Wie ich ein freier Reisebegleiter wurde

Ein Filmtagebuch über den Versuch ein Praktikum bei einem Frührentner zu machen, der sich etwas dazu verdient, indem er sich täglich am Frankfurter Flughafen eine Gruppenkarte für die U-Bahn kauft und dann am Fahrkartenautomaten den Reisenden anbietet, sie zu ihrem jeweiligen Reiseziel zu begleiten – gegen eine kleine Kostenbeteiligung, etwas günstiger als der eigentliche Fahrpreis, versteht sich.

Mit abstruser Komik und experimenteller Filmsprache beleuchtet dieser Dokumentarspielfilm die Befindlichkeit des Existenzgründers zwischen Generation Praktikum und Hartz IV. Die Geschichte verschiedener Überlebenskünstler auf dem Frankfurter Flughafen bewegt sich schmerzhaft nah am Puls der Sozialstaatsendzeit.

Deutschland 2007 / 15:00 Min. / deutsch

Regie: Jan Peters

 

TIME'S UP 

Als ein Autounfall während der Schwangerschaft ihnen die Endlichkeit des Lebens vor Augen führt, wird den Filmemachern Marie-Catherine Theiler und Jan Peters plötzlich klar, dass ihr Leben viel zu hektisch geworden ist. Sie verbringen zu viel wertvolle Zeit damit, von einer Verabredung zur nächsten und von Deadline zu Deadline zu hetzen. Also beschließen sie, ihr Leben zu entschleunigen. Aber wie? Auf einer komischen Odyssee von einem Zeitexperten zum nächsten stellen Marie-Catherine und Jan genau die Fragen, auf die die meisten von uns gern eine Antwort hätten. Für die Dauer von Marie-Catherines Schwangerschaft setzen die Regisseure von TIME’S UP alle Hebel in Bewegung und untersuchen mit Witz und Ironie, wie die heutige Gesellschaft und vor allem sie selbst mit dem Thema „Zeit“ umgehen.

Deutschland 2009 / 15:00 Min. / deutsch

Regie: Jan Peters, Marie-Catherine Theiler

 

Roadmovie

ROADMOVIE ist der Versuch ohne Kamera ein Klischee der Filmgeschichte abzubilden. Dafür haben die Filmemacher Marie-Catherine Theiler und Jan Peters eine Apparatur konstruiert, in der eine 30 Meter-Rolle 16mm Filmmaterial Lichtimpulsen ausgesetzt wurde, die sich durch wechselnde Farbfilter gebrochen auf dem Material abgebildet haben. Anschließend wurde der Film im Hand-made-Verfahren im Eimer selbst entwickelt und dem Filmmusiker Pit Przygodda zur Verfügung gestellt, der gerade das Patent für einen Synthesizer angemeldet hatte, bei dem Töne aufgrund von Lichtsignalen erzeugt werden. Das Ergebnis ist ein echtes ROADMOVIE.

Deutschland 2007 / 02:00 Min. / deutsch

Regie: Jan Peters, Marie-Catherine Theiler

 

 

 

 

Donnerstag, 14.11.2013 um 22:15 Uhr, Kleines BALi