In diesem Jahr wurden die 54 Langfilm-Beiträge aus über 500 Einreichungen ausgewählt. Einvernehmliche Kriterien, welche die endgültige Programmauswahl prägen, sind die politische, soziale und kulturelle Relevanz der Themen sowie die filmkünstlerische Bearbeitung der eingereichten Beiträge. Neben klassischen Darstellungsweisen sollen seit jeher durch die Präsentation innovativer Formate vermeintliche Grenzen des Genres sowie die Macht, Manipulierbarkeit und Manipulationskraft der Bilder zur Diskussion gestellt werden. Zudem erhalten Low- oder No-Budget-Produktionen und Nachwuchsarbeiten sowie neue Projekte alt bekannter Filmemacher/innen auf dem Kasseler Dokfest in den Sichtungen besondere Aufmerksamkeit. Denn dokumentarfilmische Schaffensprozesse kontinuierlich zu begleiteten, ist uns ebenso ein Anliegen, wie den Perspektiven mutiger und außergewöhnlicher Projekte eine Plattform zu bieten.
Verantwortlich für die Auswahl sind die Mitglieder der Sichtungskommission, die sich aus fünf Personen mit unterschiedlichen professionellen Hintergründen zusammensetzt. Neben ihrem Interesse am politischen und kulturellen Weltgeschehen und der Neugier auf mutige und unkonventionelle (Lebens-) Geschichten vereint die Gruppe eine cineastische Obsession für den dokumentarischen Film in all seinen inhaltlichen und ästhetischen Gestaltungsformen sowie die Freude an leidenschaftlichen Diskussionen über die besten Dokumentarfilme für das Kasseler Filmfest.
Jedes Jahr besuchen die einzelnen Kommissionsmitglieder diverse nationale und internationale Festivals und Branchentreffs. Hier gilt es, sich einen Überblick über neueste Produktionen zu verschaffen und Kontakte mit Filmschaffenden zu pflegen, bevor in den Spätsommermonaten die Gesamtsichtung der jährlichen Einreichungen erfolgt.
Selbstverständlich kann aus der zunehmenden Fülle herausragender Arbeiten alljährlich nur ein Ausschnitt gegenwärtigen Dokumentarfilmschaffens gezeigt werden, der formal und inhaltlich ein möglichst breites Spektrum abdecken und während der Festivaltage ein ebenso breites Publikum erreichen soll.
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Der Dokumentarfilm ist uns mit vielen verschiedenen Gesichtern begegnet. Er ist ebenso in der Kunst zu Hause, wie er auch zur Nutzung von wissenschaftlichen Zwecken dient. Oder als Therapeutikum, um Geschichte aufzuarbeiten.
Filme, in denen Schicksalsschläge, Familiendramen und Geheimnisse der Vergangenheit bearbeitet werden, können auch als Motivationsfaktor der Filmemacher/innen begriffen werden, der eigenen Geschichte mittels Film zu begegnen. In der Studierendenproduktion LIEBES ICH schreibt Luise Makarov den Brief an sich selbst, den sie nie von ihrem Ex-Freund bekommen hat. Erfahrene Filmemacher/innen wie Thomas Frickel stellen sich der Auseinandersetzung mit schmerzhaften Erfahrungen von Verlust durch das Brennglas des Filmschaffens in WUNDER DER WIRKLICHKEIT. Das Familiengeheimnis, welches über die Grenzen der Geburt auf die nächste Generation überschwappt, als „rosa Elefant“ im Raum steht und über das aber keiner reden mag, ist der Anlass für LIEBE OMA GUTEN TAG.
APFEL UND VULKAN ist eine Produktion, die in 81 Minuten danach fragt, wie mit dem Bewusstsein umzugehen ist, dass das Leben endlich ist.
Ein weiterer Schwerpunkt waren für uns Filme, die über Einzelschicksale hinaus einen größeren Bogen spannen und dadurch systemimmanenten Zusammenhängen der Gesellschaften nachgehen. Die Spannbreite reicht von der Frage „Wie viel ist ein Menschenleben wert?”, welche in dem Film PLAYING GOD von dem Anwalt und Entschädigungsspezialisten Ken Feinberg beantwortet wird und erstreckt sich bis zu einem Randphänomen, das nach und nach größere Kreise über Skandinavien zieht: in HOBBYHORSE REVOLUTION treffen wir auf Jugendliche, die mit ihren Steckenpferden hart trainieren, sich zu großen Turnieren zusammenzufinden oder „ausreiten“. Ein Bettenfachgeschäft in Dublin schickt seinen Mitarbeiter, in eine Matratze gehüllt, zu Werbezwecken an eine Straßenkreuzung. Ob das ausreicht, um den Laden vor dem Bankrott und das Privatleben zu retten, zeigt sich in MATTRESS MEN. „Wenn kein Geld da ist, werde ich halt Soldat, dann ist meine Mutter glücklich“, gesteht ein junger Argentinier im Film SOLDADO. Und wie lässt sich politische Partizipation im Rahmen eines Filmfestivals anregen? Indem man zum Beispiel das Portrait des AfD-Politikers Jörg Meuthen (MEUTHENS PARTY) oder die politischen Konzerte von Feine Sahne Fischfilet in WILDES HERZ zur Diskussion stellt.
Anknüpfend an gesellschaftsrelevante Themen schauen diese Filme aus der Vogelperspektive auf den Globus. Mit Werken wie HUMAN FLOW des Künstlers Ai Weiwei und UNTITLED, der letzten Arbeit des Regisseurs Michael Glawogger, bringt das Festival Filme auf die Leinwand, die durch ihre fast überpräsenten Bilder eine Form der Verfremdung bieten, um erschreckende Inhalte von Flucht und Gewalt mit der gewonnenen Distanz besser ertragen zu können.
Das Team der Langfilmsichtung freut sich darauf, mit Ihnen und Euch diese Filme in unterschiedlichsten Filmsprachen zu sehen und zu diskutieren.