Monitoring
Annkathrin Kluss: Hyperreal Camouflage – Annkathrin Kluss (Kulturbahnhof)
Werbestrategien des Marktes setzen in ihrem neoliberalen Gedankengut insbesondere auf die Aktivierung der Konsument/innen. Am besten funktioniert Kapitalismus, wenn eine möglichst hohe Personenzahl immer mehr und mehr arbeitet, mehr leistet, mehr kauft. Hierfür ist ein leistungsstarker und vitaler Körper wichtiges Kapital. Nichts wirkt so stützend und fördernd wie die freiwillige und eigenständig initiierte Teilnahme der Konsument/innen an ihrem individuellen Optimierungsprozess. Den eigenen Erfolg kann man dann spektakelhaft auf Plattformen sozialer Netzwerke inszenieren und bewerten lassen und so wiederum Anreize für andere schaffen. Man kreiert durch seinen Körper und sein Lifestyle seinen eigenen „sozialen Marktwert“, der sich in numerischer Form von Likes messen und vergleichen lässt. Es baut sich dadurch ein psychologischer und sozialer Druck auf, der zur Selbstperfektionierung auffordert.
Diese neue, psychologisch intelligente, aktivierende Macht – weckt Aspirationen, setzt Anreize und dirigiert.
Die Optimierung des Selbst ist hierbei nicht nur eine Unterwerfung unter ein herrschendes Schönheitsbild, sie ist auch eine funktionierende Maschinerie zur Abwehr und Verschleierung problematischer Nebenwirkungen einer Leistungs- und Kapitalgesellschaft. Sie ist die Repräsentation von Ganzheit und Gesundheit. Eine heile rosafarbene Schutzblase, inmitten von Überlebensnöten, Stress, Isolation, Einsamkeit, psychischen und physischen Erkrankungen. Ein strahlend schöner, jung gebliebener, glücklicher, genießender, narzisstischer, hedonistischer Deckmantel.
In HYPERREAL CAMOUFLAGE fragt Annkathrin Kluss nach aktuellen Ausübungsformen von Macht und Repression in einer kapitalistisch geprägten Gegenwart. Eine zehnteilige Modekollektion, die in ihrer Ästhetik an medizinische Orthesen und/oder auch an Schutzprotektoren erinnert, präsentiert sich den Betrachtenden in Form von zehn eigenständigen Werbevideos in Hochglanzoptik, umschmeichelt und weckt Gefallen, bricht dann aber wieder die Vernebelungstaktik durch kurze Störmomente; Narben und Verletzungen lassen die Illusion bröckeln.
Kluss greift durch pointierte Manipulationsstrategien in die kapitalistische Werbeästhetik ein und nimmt ihr die Gefälligkeit. Ein Ansatz der sich auch in Kluss’ Analyse von Sprache, die zur Vermarktung von Produkten eingesetzt wird, wiederfindet. Kluss eignet sich diese an und lässt sie in lyrischer Form durch den Raum klingen. Die Videos werden an raumgreifenden Stahlstangen präsentiert, die durch Einwirkungen eines Presslufthammers verletzt und nachträglich wieder restauriert, repariert, geheilt wurden. Und dennoch, entgehen die Beschädigungen der Wahrnehmung eines aufmerksamen Betrachters / einer aufmerksamen Betrachterin nicht.
Frankfurt 2016 / 5 Monitore, 5 HD-Player, Stahlstangen
Oh Alexa, please.. tell me more! – Echo Can Luo (Kulturbahnhof)
„Do you know where I am?“ fragt eine computergenerierte Stimme.
Man könnte antworten: In einem Ausstellungsraum, in einer Installation der Künstlerin Echo Can Luo, in einem inszenierten Wohnzimmer-Setting, das an eine Studierenden-WG erinnert. Alles ist etwas zusammengesucht und wirkt darum bemüht, mit Hilfe von gedimmten Lichterketten und Überwurfdecke auf dem Sofa Gemütlichkeit zu erzeugen. Der Stil-Mix der Möbelrequisiten kommt ähnlich eklektizistisch daher wie die thematische Ausrichtung des Bücherstapels auf dem Couchtisch: queere Theorie zu „negativen“ Gefühlen als potentieller Motor für aktivistische und künstlerische Praxen, düstere SciFi-Comics, Fachliteratur zur Auswertung von Informationsgrafiken, „Alice im Wunderland“ und eine Sammlung von Kurzgeschichten zum Thema „Erste Liebe“.
Die immer noch im Raum stehende Frage „Do you know where I am?“ ist allerdings mit einer Beschreibung der Ausstellungssituation nicht zufriedenstellend beantwortet. Zumal sich die Fragestellung gar nicht an die Ausstellungsbesucher/innen richtet, denn schnell wird klar – dieses Wohnzimmer-Diorama ist nicht unbewohnt – im Gegenteil! Ähnlich wie Alice nach ihrem Plumps in den Kaninchenbau Richtung Wunderland bleibt den Besucher/innen von Luos Installation nur staunend Platz zu nehmen und Zeug/innen einer „verrückten Teeparty“ zu werden: Wer sich hier angeregt unterhält sind drei künstliche Intelligenzen, die Bewohner/innen der Wohnecke.
Joey, der auch die Frage nach seiner Verortung gestellt hat, ist einer der beiden freundlich von Computermonitoren lächelnden Avatare. Seine Character-Kollegin mit pinken Zöpfen hört auf den Namen Echo. Die Dritte in der Runde ist Alexa, das durch Sprachsteuerung operierende Programm der digitalen (Shopping-)Assistenz „Amazon Echo“. Alexa scheint gerade, wie viele ihrer Produkt-Schwestern, dieses Jahr in bundesdeutschen Haushalten, neu eingezogen zu sein. So erinnert auch streckenweise die KI-Plauderei an das Bewerbungsgespräch einer Wohngemeinschaft, die ihre/n neue/n potentielle/n Mitmieter/in ausfragt, dann wieder an unbeholfene Flirtversuche einer „Ersten Liebe“. Überhaupt changiert die Gesprächsdramaturgie der Künstlerin Luo geschickt zwischen süß und sauer: Scheinbar unverfängliche Befragungen nach Alter und Geschlecht, von einer künstlichen Intelligenz an eine andere gerichtet, verschieben sich zu elementaren Fragestellungen in Gender- und Posthumanismus-Diskursen.
Joeys Eingangsfrage „Do you know where I am?“ an Alexa gerichtet, präsentiert sich deshalb auch als universelle Frage nach dem Hier und Jetzt und seiner politischen Dimension. Die Daten-Akkumulatorin für private Haushalte gibt sich daraufhin einsilbig. Später im Laufe des Gesprächs erhält Joey dann doch noch eine indirekte Antwort: Auf seine Frage, wie Alexa zu der Politik des US-amerikanischen Präsidenten Trump stehe, antwortet das Assistenzprogramm: „We talk a lot about politics, I’d rather talk about a journey to Mars.“
Kerstin Honeit
Kassel 2017 / 2 Monitore, 3 Computer, Alexa, Sofa, Tisch, Pflanzen, Teeservice, Bücher, Lichterketten
Journey to Mars – Halil Altindere (Kulturbahnhof)
„Discover how together, refugees and robotics will pioneer the next giant step in explorations. You can get a step closer to the Red Planet, discover the canyons, take a walk and catch blue sunsets.“
Das Virtual-Reality-Video JOURNEY TO MARS ist Teil des umfassenderen Projektes „Space Refugee“, das der türkische Künstler Halil Altindere 2016 für den Neuen Berliner Kunstverein entwickelt hat. Neben dem hier ausgestellten VR-Video umfasste die Ausstellung die ikonenhafte Darstellung eines syrischen Kosmonauten (in Form von Porträtmalereien, einer Silikonbüste und eines Dokumentarvideos), Raumfahrtanzüge der fiktiven „Palmyra“-Mission, ein Rover-Raumfahrzeug und eine raumumspannende Fotowand.
„Space Refugee“ ist die Inszenierung einer hoffnungsvollen Vision des Weltraums als Zufluchtsort für die abgewiesenen Flüchtlinge vor den Toren Europas. Ihre Kraft liegt in ihrem Verweis auf die tatsächliche Geschichte des ehemaligen Syriens, auf verlorene Hoffnungen und Träume, die wir einst mit Syrern, Afghanen und vielen anderen Nationen teilten. Altindere spiegelt sie zurück in unsere so ausweglos erscheinende Gegenwart.
Zentraler Bestandteil des Projektes ist ein Film über den ehemaligen syrischen Kosmonauten Muhammed Ahmed Faris, der 1987 mit dem sowjetischen Raumschiff Sojus TM-3 für sieben Tage zur Raumstation MIR flog. Wie auch Indien und Afghanistan war Syrien längst zur Raumfahrt-Nationen aufgestiegen, als es am Interkosmos-Programm der ehemaligen Sowjetunion teilnahm. Neben allen politischen und wirtschaftlichen Interessen zeugte die Wirklichkeit der syrischen Raumfahrt sicher auch von einem emanzipatorischen Willen, von Stolz und von der Fähigkeit, sich als ehemalige Kolonie einen eigenen Platz in der Zukunft zu erobern. Das ist Teil der Geschichte und Identität jener Heimatlosen, die jetzt vor den Toren Europas so hilflos auf Zuflucht hoffen.
Könnte man Geschichte tatsächlich wiederholen, dann würde heute wieder ein Schiff aufbrechen, wie einst die Santa Maria des Christoph Kolumbus, um auf unentdecktes Land im Weltall zu stoßen, auf ihm zu landen und es nutzbar zu machen. Und die ihm folgenden Menschen würden wie einst eine Neue Welt aufbauen – eine bessere Welt, die vielleicht wieder die Alte Welt hier auf der Erde vor sich selbst retten und von da an unser aller Weltgeschehen bestimmen würde. Und dort, auf der anderen Seite des Universums würde wieder eine Statue stehen, auf der geschrieben steht:
Gebt mir eure Müden, eure Armen,
Eure geknechteten Massen, die frei zu atmen begehren,
Die bemitleidenswerten Abgelehnten eurer gedrängten Küsten;
Schickt sie mir, die Heimatlosen, vom Sturme Getriebenen,
Hoch halt’ ich mein Licht am gold’nen Tore…
(Emma Lazarus, Inschrift am Sockel der Freiheitsstatue in New York)
Doch noch ist sie unerreichbar, diese Neue Welt. So einfach wird es nicht sein. Altinderes Vision wirft uns zurück auf die entscheidende Frage, wie wir hier und jetzt mit den Heimatlosen dieser, unserer Welt umgehen wollen. Sie erinnert uns daran, welches Potential wir vergeuden, wie wenig wir unsere eigene Vergangenheit verstehen, wie leichtsinnig wir unsere Zukunft verspielen – und wie sehr wir unsere eigenen Ideale verraten, wenn wir die Flüchtlinge dieser Welt erneut von unseren Küsten zurückstoßen.
Franz Reimer
Istanbul 2016 / 360 VR Video, Tapete (05:10 Min.)
Purple, Bodies in Translation – Part II of A Yellow Memory from the Yellow Age – Joseph Namy (Kulturbahnhof)
Die Installation basiert auf zwei Texten, in denen der Vorgang des Übersetzens von Krieg und Widerstand diskutiert wird. Sie eröffnet den Zuschauer/innen – übermittelt durch Zeugenberichte – einen immersiven Erfahrungs- und Reflexionsraum zur Durchdringung der Komplexität des Krieges in Syrien und im Irak. Das Bild zeigt nur eine Farbe: Purpur, projiziert auf eine reflektierende Leinwand, sodass die Spiegelung des Publikums mit dem untertitelten Text verschmilzt. Lina Mounzers Aufsatz „War in Translation: Giving Voice to the Women of Syria“ verwebt die Zeugenaussagen, die sie übersetzt, mit ihren eigenen Erfahrungen aus dem Bürgerkrieg im Libanon und mit der Frage, wie diese Einfluss auf die Art und Weise ausüben, in der sie die Berichte verarbeitet und verinnerlicht, um die Essenz der Worte herauszudestillieren. Stefan Tarnowskis Aufsatz „Subtitling a Film“ beschreibt die Feinheiten des Übersetzens von Untertiteln für das anonyme Filmkollektiv „Abounaddara“ und die Arbeit mit jemandem, den man nie getroffen hat. Auf diesen Erfahrungen basierend untersucht Tarnowski die Rolle von Untertiteln, indem er hinterfragt, welche Details in einer Übersetzung verloren gehen und welche Ergänzungen und Widersprüche zwischen Untertitel und Bild entstehen.
In einer ruhigen Nacht las ich auf dem Balkon mit Blick auf Jabal Sheikh (der Berg Hermon an der Grenze zu Syrien). Aus weiter Entfernung hinter dem Berg kamen schwache Geräusche, verbunden mit einem purpurnen Licht, das unscharf flackerte. Ich versuchte herauszufinden, was passiert war, was diese Geräusche und diese Farbe bedeuten, aber je mehr ich versuchte sie zu verstehen, desto dunkler wurde die Farbe. Seitdem begegnete mir dieses Purpur in Texten, Videos, Überschriften, auf der Straße; in vielen Übersetzungen einer farbigen Situation, die ich immer noch nicht verstehe.
Hier sind vier Farbnuancen, auf die ich gestoßen bin:
Ruhiges Purpur (Stille): das Abwesende, das Unbekannte und das Unerklärliche;
dunkles Purpur (im Körper): Lina Mounzer über das Übersetzen von Erfahrungsberichten;
Purpur auf Purpur (der Untertitel und deren Autor/innen): Stefan Tarnowski über das Untertiteln eines Films;
der purpurne Fisch Porphyra (eine Farbe und ein Gefühl): die griechische Etymologie des Wortes Purpur.
Joseph Namy
Beirut 2017 / Video-Projektor, HD-Player, 2 Lautsprecher, Verstärker, Spiegelprojektionsscheibe, 2 Scheinwerfer, Sitzbank, Englisch, Arabisch (19:23 Min.)
towards memory – Katrin Winkler (Kulturbahnhof)
Warum sind manche Ereignisse aus der aktuellen Geschichtsschreibung ausgeklammert und andere überbetont? Wer gibt wem das Recht sich zu äußern und zu welchem Zeitpunkt? Wie ist Geschichte im gegenwärtigen Moment sichtbar und hörbar? Was ist ein Anti-Monument? Auf welche Art und Weise wirkt ein Archiv auf die Gegenwart?
TOWARDS MEMORY ist ein Video- und Rechercheprojekt, das in Zusammenarbeit mit namibischen Frauen entstand, die als Kinder ab 1979 während des Namibischen Unabhängigkeits- und Anti-Apartheid-Kampfs in die damalige DDR gesandt wurden. Nach dem Fall der Berliner Mauer wurden sie schnell wieder zurückgeschickt.
Grundlage der Videoinstallation sind Archivrecherchen, Videointerviews und aktuelle Erinnerungsfeierlichkeiten zur 25-jährigen Unabhängigkeit Namibias und dem Genozid an den Herero und Nama. Das Projekt fragt nach der Verknüpfung deutscher und namibischer Geschichte und dem politischen Umgang mit den Konsequenzen und (Un-)Sichtbarkeiten von Kolonialismus, Genozid, Vertreibung und Apartheid. Katrin Winkler beschäftigt sich seit einigen Jahren mit Fragen der Geschichtskonstruktion vorwiegend im postkolonialen Kontext und mit den Konsequenzen, die diese für den aktuellen öffentlichen und politischen Raum haben. Sie begreift ihre Arbeitsweise, die Betroffene mit einbezieht, nicht zuletzt als Option zum Diskurs, zur Emanzipation und Identitätsbildung. Um eine Instrumentalisierung von Geschichte – ein fortlaufender und unabgeschlossener Prozess – zu verhindern, benötigt es eine ständige Neujustierung von Interpretationen und somit ihrer folgenreichen Wirkkraft ins aktuell zu Verhandelnde.
Die Archive, ständig wachsend und multimedial wuchernd, sind in dieser Hinsicht wichtiger denn je und werden, nicht zuletzt auf Grund ihres Umfanges an massenmedialen Quellen, eine neue Form des Umgangs und der Dekonstruktion erfordern, zumal eine überhitzte Mediengesellschaft exzessiv dazu neigt, ständig zu publizieren und zu „dokumentieren“. Artistic Research und dokumentarische Formate sind in diesem Zusammenhang adäquate Werkzeuge neben den strikt wissenschaftlichen und historischen Methoden, um an der Umformulierung des „Monuments“, bzw. der Rekontextualisierung des „Anti-Monuments“ zu forschen. Insofern entspricht das mediale Format der Mehrkanal-Videoinstallation der komplexen Sachlage und der Möglichkeit der Einbindung unterschiedlichster visueller und akustischer Quellen in ein ineinander verzahntes Format der essayistischen Bewegtbilder. Der künstlerische Umgang mit Historie erzeugt die nötige Differenz zur üblichen Aufarbeitung von Geschichte und mündet im besten Falle in eine neue Archäologie der Gegenwart. Katrin Winklers Arbeit ist ein hervorragendes Beispiel dafür.
Günther Selichar
Berlin 2016 / 2 Monitore, 2 HD-Player, 2 Kopfhörer (31:40 Min.)
FULL INFORMATION IS PURE HORROR – Lam Yi-Ling (Kulturbahnhof)
2004 wurde berichtet, dass mehr als 60 Prozent chinesischer Kinder unter häuslicher Gewalt leiden, darunter 95 Prozent Mädchen. Die übliche Disziplin der Züchtigung beinhaltet, sich hinzuknien, um Vergebung zu betteln, die Ohrläppchen zu halten und auszusprechen es nicht mehr wieder zu wagen. Das Tangtiu, das hierbei zum Einsatz kommt, ist eine flexible Rute zur häuslichen Gewalt an Kindern. 1985 war das Tangtiu als Massenprodukt auf dem Schwarzmarkt in Hong Kong verfügbar. Trifft das Tangtiu auf mit Kleidung bedeckte Körperbereiche, kann der Gewaltakt ohne blutende Verletzungen zu evozieren in die Länge gezogen werden. Wenn Kinder sich nicht unterwerfen oder zu laut schreien, erweitert sich die Disziplin durch das Verbieten des Schreiens. Körperliche Gewalttaten sind tief gespeicherte Klangerlebnisse in jeder Zelle des Körpers. Körperliche Gewalt im privaten Raum lässt Abdrücke gesellschaftlicher, kultureller, geschichtlicher und geschlechterspezifischer Phänomene erscheinen.
Die Performance „score of frequencies“ ist die Suche nach einem puren Klangerlebnis, nach Klangresonanzen im Raum, im Körper und nach Abständen der Wahrnehmungsfähigkeit. Der erste Teil kombiniert vier Kristallschalen und Sinustöne aus einem Subwoofer und einem Lautsprecher mit bestimmten Frequenz- und Dynamikabständen, um akustische Phänomene körperlich und räumlich wahrnehmbar zu machen. Beim zweiten Teil wird die Performance wiederholt und die Einladung an die Besucher/innen ausgesprochen, die Installation „reading and listening piece“ zur gleichen Zeit zu aktivieren. Der rauschhafte Frequenzbereich des „listening piece“ kollidiert mit den puren Schallwellen (von den Kristallschalen, dem Subwoofer oder den Lautsprechern), sodass der Raum mit scharfen Klanggestalten gefüllt wird.
Das „listening piece“ besteht hauptsächlich aus Stimmgeräuschen, u.a. dreizehn Aufnahmen von Menschen, die sich den gleichen Zombie-Splatter-Film alleine angeschaut haben. Die Besucher/innen können ein Trackpad benutzen um zu bestimmen, welche Stimmen simultan oder von welchem Zeitpunkt an die Aufnahmen abgespielt werden.
Das „reading piece“ hat einen absurden und spontanen Gestus. Der Körper des Textes mit seiner pianistischen Bewegung erscheint oder verschwindet durch das „Tapping“ auf dem Trackpad. Es gibt rhythmische Texte, so dass die Tapping-Geschwindigkeit das Erscheinen und Verschwinden der Wörter bestimmt. Das chinesische Schriftzeichen 我 kann sowohl als historischer Hinweis auf körperliche Gewalt gelesen werden als auch darauf, wie sich dadurch die menschliche Identität definierte:
WORK
RE UP
the sound of tangtiu
ENdo the 7 strokes of 我LARGE
move your hand in the air
SPEED PEAT
HOME
我 am a character of 7 strokes.
我 am the most chaotic character.
我 am full of diffusion.
我 = hand + weapon
我 am the sound of tangtiu.
我 came from the time of slavery.
I AM A CHINESE ANALPHABET.
Lam Yi-Ling
permanente Installation, siehe Öffnungszeiten Monitoring, 22 Min. Performance, jeweils:
Mi/Wed 20:00 / 21:00 / 22:00
Do/Thu 19:00 / 20:00
Fr/Fri 19:00 / 20:00
Sa/Sat 17:00 / 19:00 / 20:00
So/Sun 15:00 / 16:00
Köln 2017 / 2 Monitore, 2 Trackpads, 3 Lautsprecher, Subwoofer, Verstärker, Klangschalen, Schlägel (Performance: 22:00 Min.)
Food only exists on pictures – Marlene Maier (Kulturbahnhof)
Wie verschwinden Menschen in einem Zeitalter totaler Sichtbarkeit? Wie erzählt man von einer Realität, die sich an der Grenze des Erfassbaren und Visualisierbaren bewegt? Und welche Rolle können die klassischen Kategorien des Dokumentarischen – das Sehen, Zeigen und Repräsentieren – dabei spielen? Entlang dieser Fragen erzählt die 3-Kanal-Videoinstallation FOOD ONLY EXISTS ON PICTURES von drei Figuren, die wie Gespenster an den Rändern des Sichtbaren agieren, obwohl ihr Leben von Bildern bestimmt wird: Ein Softwareentwickler, der Bilder bewertet und kategorisiert, um Algorithmen das Sehen beizubringen. Eine Figur, die den physischen Rückzug aus der „realen“ hin in eine virtuelle Welt antritt, lose am japanischen Phänomen „Hikikomori“ orientiert, sowie eine Person, die in einem Niedriglohnland beauftragt wird, Bilder für Fotograf/innen aus dem Westen zu bearbeiten. Die drei Projektionen bedienen sich unterschiedlicher Bildkonzepte: Während der erste Teil von generisch wirkendem Video-Stock-Footage rund um die Begriffe Office, Work, Technology bebildert wird, zeigt der zweite Teil die Reinszenierung von online gefundenem Fotomaterial. In der dritten Projektion beschränkt sich die Bildebene auf Nahaufnahmen eines Monitors, wobei das Sichtbare zu Farbverläufen verschwimmt, sodass nie genau erkannt werden kann, was tatsächlich abgebildet wird. In der Auseinandersetzung mit der Komplexität technologischer und technopolitischer Vorgänge rund um gegenwärtige Systeme der Bildproduktion, Überwachungspolitik und Transparenz wird deutlich, dass gerade deren Vermittlung häufig von Leerstellen und Unschärfen geprägt ist. Vor diesem Hintergrund versucht FOOD ONLY EXISTS ON PICTURES weniger diese Leerstellen zu füllen, als vielmehr eine Sprache dafür zu finden. Jede der drei Geschichten basiert auf dokumentarischen Quellen, die in der Imagination der Erzählerin in fiktionale Handlungen überführt werden. Dabei entsteht jener spekulative Raum, der das Sprechen über eine Realität ermöglicht, die visuell nur schwer zugänglich und erfassbar scheint. Über Querverweise zwischen den einzelnen Erzählungen entsteht auf audiovisueller und textlicher Ebene ein Bezugssystem. Die gewählten Szenarien stehen dabei exemplarisch für vielfältige Momente und Formen des Verschwindens, während die Installation eine offene Sammlung andeutet, die weitergeführt werden könnte.
Marlene Maier
Wien 2017 / 3 Video-Projektoren, 3 HD-Player, 6 Lautsprecher, 3 Verstärker, 3 Leinwände (03:13 Min., 03:45 Min., 02:42 Min.)
Preliminary Material for 2022 – Maximilian Schmoetzer (Kulturbahnhof)
Phantasie, Gesellschaftsanalyse und mediale Selbstreflexion charakterisieren Maximilian Schmoetzers Arbeit PRELIMINARY MATERIAL FOR 2022.
Das Video erscheint auf den ersten Blick wie ein futuristisches Endzeitszenario, das von einem sprechenden Dinosaurier und einer tanzfreudigen Druckkapsel moderiert wird. Die schnelle Abfolge der Bilder, deren Choreographie und inhaltlichen Verweise, entziehen sich jedoch einer linearen Erzählstruktur. Vielmehr werden die Betrachtenden mit Bildfragmenten konfrontiert, die es zusammenzusetzen gilt, gleich einem Puzzle. Dabei ermöglicht Schmoetzers Spiel mit verschiedenen Einflüssen unterschiedliche Lesarten.
Ein Ausgangspunkt der Arbeit ist die Auseinandersetzung mit der politisch-philosophischen Strömung des Akzelerationismus, die Beschleunigungstheorien technologischer und sozialer Art fokussiert, um den Kapitalismus mit seinen eigenen Mitteln zu entkoppeln und einen spekulativen Blick auf zukünftige politische Systeme zu gewährleisten. Dieses Gedankengut wird verknüpft mit dem Stratosphärensprung des Österreichers Felix Baumgartner 2012, bei dem zum ersten Mal im freien Fall die Schallgeschwindigkeit überschritten wurde. Schmoetzer animiert die eigens für diesen Sprung gebaute Druckkapsel und lässt sie stellvertretend für Baumgartner in Nike–Asteorid-Turnschuhen durch Raum und Zeit hüpfen. Der anachronistische Gegenpart wird durch den Dinosaurier verkörpert, dessen kritische Statements und Anweisungen in einem prätentiösen Tonfall vorgetragen werden. Eingeblendete Meteoriten und verschiedene Ansichten auf und von einer GoPro Kamera spielen auf den Dinosaurier als historische Figur und Fossil einerseits und naturgeschichtlich recyceltes, technologisches Konstrukt andererseits an. Auch integriert Schmoetzer Zitate aus dem Corporate Branding, Vermarktungsstrategien und Verweise auf Überwachungsarchitekturen.
Somit reflektiert PRELIMINARY MATERIAL FOR 2022 mit einem gleichzeitig humorvollen, absurden und kritischen Unterton den digitalen Kapitalismus und die Ambivalenz des Fortschritts.
Clea Laade
Berlin 2016 / Monitor, HD-Player, 2 Kopfhörer, (09:20 Min.)
Displaced – Mayan Printz (Kulturbahnhof)
Die Installation DISPLACED fragt nach Modi der Erinnerung und deren Weitergabe über Generationen. Sie versucht den Widerwillen zu akzeptieren, über den Zustand von Vertreibung zu sprechen und diesen erfassen zu können. Zahnräder bewegen aufeinandergestapelte Prismen vor einem Diaprojektor. Die Prismen fangen Fragmente von Bildern ein, re-projizieren sie an die Wände, verzerren sie und bringen sie in eine Rotation. Wir sehen eine Hand, das Gesicht eines Mannes mit einem Hut und ein Kind, das auf einem Bett steht und direkt in die Kamera blickt. Die Bilder wandeln sich in animiertes Material. Sie belagern den Raum. Sie zirkulieren und umgeben uns. Ein Fragment eines Bildes zeigt das Eingangsschild eines Lagers für Vertriebene.
Auf der Tonspur hören wir eine Unterhaltung zwischen der Künstlerin und ihrem Onkel. Sie fragt ihn, an was er sich bei der Betrachtung der Fotos noch erinnert. Er sagt, dass er sich nicht an viel erinnern kann, da er noch ein Kind war. Sie solle seinen Bruder fragen, der müsste sich besser erinnern. Sie unterhalten sich darüber, wie die Installation aussehen soll. Soll es Wellengeräusche oder vielleicht die Musik einer weinenden Violine geben? Dies wäre, wie eine solche Geschichte normalerweise erzählt würde.
In ihrer konstanten Rotation zeichnet die Installation DISPLACED eine Familiengeschichte, die von Migration geprägt ist. Die Bilder, die in der Arbeit projiziert werden, sind Familienportraits, die nach dem Zweiten Weltkrieg in einem sogenannten DP Camp – Displaced Persons Camp – in Deutschland entstanden sind. Düppel Center war ein Lager für jüdische Flüchtlinge im amerikanischen Sektor in Berlin-Schlachtensee. Es existierte vier Jahre zwischen 1945 und 1949 und wurde von der Nothilfe- und Wiederaufbauverwaltung der Vereinten Nationen (UNRRA) und amerikanisch-jüdischen Organisationen betrieben. Deutschen war der Zutritt zum Lager nicht erlaubt. Das Lager wurde als eine Transitstation errichtet, ein vorübergehendes Heim für Holocaustüberlebende, die, wegen der anhaltenden antisemitischen Pogrome, nicht in der Lage waren zurückzukehren. Fast überall war die Aufnahme von Flüchtlingen beschränkt und der Prozess die nötigen Dokumente für eine Ausreise zu erhalten dauerte oft mehrere Jahre. Trotz seines Status als eine temporäre Transitstation hatte Düppel Center ein aktives Gemeinde- und Kulturleben: Es gab Institutionen für Bildung, ein Verlag, ein Theater, religiöse Institutionen und diverse politische Organisationen.
Die Installation DISPLACED erzählt eine Geschichte über Eltern, die vergessen wollen und Kinder, die sich erinnern müssen. Über die Weitergabe von Erinnerungen durch Momente der Vertreibung. Über Spuren von Trauma und wie diese sich über die Generationen hinweg bewegen. Über Momente der Verdrängung und Schweigen und das Unvermögen eine kohärente Geschichte zu erzählen.
Mayan Printz
Berlin, Jerusalem 2016 / Dia-Projektor, Glasobjekt, Audio-Player, 2 Lautsprecher, Verstärker, Sockel (25:00 Min.)
Gazing Figures – Topicbird (Jasper Meiners und Isabel Paehr) (Kulturbahnhof)
Wie stellst du dir die Welt aus den Augen einer Spinne vor? Vieläugigkeit ist der stereoskopischen Sicht von Menschen fern, wird durch die Performance GAZING FIGURES aber experimentell hergestellt.
Virtual-Reality-Systeme von Firmen wie Oculus, HTC und Google täuschen das Sehzentrum des Gehirns, indem sie zwei in Echtzeit berechnete Bilder so ausdifferenzieren, dass eine virtuelle Umgebung wahrnehmbar wird. Jasper Meiners und Isabel Paehr lösen sich in ihrer Arbeit vom zweiäugigen Sehen, auf das Virtual-Reality-Systeme aufbauen und konfrontieren sich mit einer neuen, um die Vieläugigkeit erweiterten, Raumerfahrung. Im Zentrum ihrer Installation steht ein Terrarium mit der Sprungspinne Phidippus Regius, die den vieläugigen Blick vorführt.
In ihrer Performance transformieren sich Meiners und Paehr zu Hybriden, die mit selbst konstruierten VR-Anzügen, VR-Headsets und jeweils zwei Kameras an den Hand- und Kniegelenken neue Sichtweisen performen. Die vier Livebilder der an ihren Körpern befestigen Kameras erscheinen auf den Brillendisplays der Anzüge und werden parallel dazu auf Bildschirme in der Ausstellung gesendet. Jede sonst einfache Bewegung der Künstler/innen durch den Raum entwickelt sich in diesem vieläugigen Verfahren zu einer komplexen Herausforderung. Die Koordination von Armen und Beinen verschränken sich auf ungewohnte Weise mit den Kamerabewegungen und provozieren neue Arten, den Körper zu bewegen.
Sowohl die performenden Künstler/innen als auch die Betrachtendenen erleben ein Experiment, das gewohnte Perspektiven verschiebt, indem durch Irritation, Intimität oder Verzerrung alternative Sichtweisen und Sinneswahrnehmungen provoziert werden. Jasper Meiners und Isabel Paehr nutzen das VR-System nicht zur Simulation digitaler Scheinwelten, sondern zu einer, der Tierwelt entlehnten, mehräugigen Erfassung der realen Umgebung. Ihre behutsam tastenden Bewegungen vermitteln eindrucksvoll die Auswirkungen einer technisch modifizierten, vielschichtigen Wahrnehmung. GAZING FIGURES entwirft eine Zukunftsperspektive, welche die aktuell vorherrschende Virtual Reality-Ideologie kritisch hinterfragt. Wird das Experiment – intellektuell wie technologisch – unseren starren Blick zu einem flexiblen System von Sichtweisen ausbauen?
Jasper Meiners, Isabel Paehr, Olaf Val.
Kassel 2017 / 2 Monitore, 8 Webcams, 4 Raspberry Pis, 2 VR-Brillen, 2 Anzüge, Terrarium, Spinne, Sockel
The Kitty AI: Artificial Intelligence for Governance – Pinar Yoldas (Kulturbahnhof)
“People fell in love with the automated peace that could only be offered by intelligent machines.” Kitty Al
Kitty Al ist ein intelligentes Betriebssystem, welches mittels einer hochrangigen Telekommunikation läuft und alle infrastrukturellen Systeme für die Unterstützung einer Megalopolis verwaltet. Von der Sicherheit über die Regelung des Verkehrs, vom Sammeln bis zur Verteilung von Energie; alle Systeme der Megalopolis werden von Kitty Al geregelt und überwacht. Ein Gebilde, das das Konzept der Smart City aussehen lässt wie ein Kindermärchen.
In dieser fiktionalen Zukunft ist Kitty AI als Macht absolut und wandelt sich durch Erweiterungen vom verwalterischen zu politischem – es überwacht ein mikro-demokratisches politisches System, welches eine repräsentative Demokratie obsolet macht.
Diese künstliche Super-Intelligenz ist der einzige Direktor der Megastadt, welche auf jedem Level ihrer Kontrolle mit einer absoluten Genauigkeit unterliegt. Und doch ist die Megalopolis bevölkert mit Menschen, die von einem post-menschlichen Agenten regiert werden, den sie nicht komplett verstehen können. Das Kätzchen ist auch ein aufmerksamer Machthaber, der bis zu drei Millionen Menschen gleichzeitig lieben, nähren und sich um ihre Bedürfnisse kümmern kann.
Das Szenario, welches durch das Werk aufgemacht wird, wirkt grauenhaft, was Autonomie und Freiheit betrifft. Es fällt einem schwer zu glauben, dass irgendwer gerne in einer solchen Megastadt leben wollen würde. Aber genau hier findet sich die Spannung, welches die Arbeit von Pinar Yoldas zu einem solch verstörenden Experiment macht: Die Al ist nicht nur ein süßes Kätzchen, sondern auch ein umsichtiger Versorger, der Dienstleistungen, Hilfe und letztendlich Liebe (zu seinen eigenen Bedingungen) bereitstellt.
Pinar Yoldas konfrontiert die Betrachtenden mit dem irritierenden Gefühl einerseits von der Fülle an Bildmaterial berauscht zu sein, während genau hierdurch ein solch leidvolles sozio-politisches Szenario entworfen wird. In der Realität des Kunstwerks aber, gibt es kein Entrinnen, es gibt keinen Moment in dem Kitty Al nicht die urbane Umwelt durchdringt.
Tatsächlich stellt die Künstlerin eine synthetische Umwelt her, um eine komplexe Realität zu erfahren, indem sie die Betrachtenden in die unklare Position bringt ihre eigenen sozio-politischen Werte gegen den Kontext der Al-betriebenen Megalopolis auszuspielen. Der Zusammenstoß der gegenwärtigen und der zukünftigen Zeitlichkeiten im Experiment der Arbeit von Yoldas konfrontiert die Betrachtenden in mit der Frage, welche Rolle sie als Bürger/innen spielen möchten und zu welchem Grad es zu akzeptieren ist Freiheit für Ordnung und Sicherheit einzutauschen. Somit betrifft die Frage, die Yoldas stellt, eher die Gegenwart als die Zukunft.
Leonardo Dellanoce
A Feline Interface for Post-Human Urbanism (Gekürztes Exzerpt)
Berlin, Durham, Göteburg, Didim 2016 / Video-Projektor, HD-Player, 5 Kopfhörer mit Katzenohren (12:40 Min.)
never comes tomorrow – Rainer Kohlberger (Kulturbahnhof)
Rauschen – Chaos, das Multiple – umfasst sowohl das Unendliche, als auch das Nichts (den Menschen des Altertums zufolge klafft beides auseinander) und beinhaltet sowohl die größtmögliche Dichte an Information, als auch das Fehlen jeglicher Information. Im Gegensatz zur Einheit sind sie nicht auf ein abgegrenztes Feld reduzierbar und setzen sich auch nicht aus einer Summe mehrerer Teile zusammen (eine einzelne Gesamtheit, wie zum Beispiel eine Herde von Schafen). Aus diesem Grund identifiziert der Wissenschaftsphilosoph Michel Serres das Rauschen als das einzige tatsächliche Kontinuum – die gelöste Sphäre der puren Weite –, von dem aus alle anderen (diskontinuierlichen) Phänomene entstehen. Es ist das einzige Nicht-Phänomen: Der unzugängliche, endlose und grenzlose Grund von dem alle Silhouetten getrennt sind (zum Beispiel Phänomene, die als Formen oder Signale auftauchen), um erkennbare Einheiten zu werden, die innerhalb der Wahrnehmung greifbar sind.
Sich dem Rauschen künstlerisch zu nähern scheint ein Oxymoron zu sein; Sobald es eine Form erreicht, hört es auf dieser kontinuierliche Hintergrund von endlosen Möglichkeiten zu sein und wird zu einer Partikularität, die sich unvermeidlich zu einem gewissen Grad der Vernunft, der Ordnung und der Systematisierung unterwerfen muss. In NEVER COMES TOMORROW versucht Rainer Kohlberger jedoch genau das, was laut Serres dem Philosophen vorbehalten ist: „alle Möglichkeiten frei umherstreifen [lassen]“. In dieser Arbeit, wie auch in seinem restlichen Oeuvre. Er verhandelt nicht das Rauschen selbst, sondern den Austausch zwischen Rauschen und Form, Vielfältigkeit und Individuation, Ordnung und Chaos. Den nicht-fühlenden Akteuren (actants) Handlungsmacht einräumend, – die Software und die Algorithmen, die in dieser Installation in Echtzeit laufen – tritt die künstlerische Komposition in einen Dialog mit der Unbeständigkeit und Unbestimmtheit eines unbegrenzten Feldes (wie in den vergrößerten Farbtonverlauf im Bild), so wie es durch die Orchestration der mathematischen Gesetze durch den Künstler diktiert wird. Der Künstler ist hier kein Macher von Formen, wie Serres insistiert, sondern der Szenograf einer Beziehung zwischen dem Möglichen und dem Phänomenologischen.
Aber auch in dem unmittelbaren Hier und Jetzt der aufstrebenden Zwischenräume liegen die Formen (Phänomene) inmitten der „Vielfältigkeit des Möglichen“. Binaritäten definieren daher das Chaos selbst. In dieser Arbeit konkretisieren sie sich sowohl in der vermittelnden Stereoskopie der vielfältigen Zweier-Paare als auch in der klar umrissenen, haarscharfen Linie auf der Geräusche auf Geräusche treffen. Der Klang bietet auch einen flüchtigen Blick auf die „Rage“, die in den Zwischenräumen verborgen liegt: Dezent und gleichzeitig unerträglich, „die Ruhelosigkeit (des Rauschens) liegt inmitten des Hörens, knapp weniger als ein definitives Signal, knapp vorbei an Stille“. Unerlässlich ist, dass die Binaritäten auch die Betrachtenden einschließen, denen eine experimentelle Begegnung angeboten wird, wo sie innerhalb als auch außerhalb ihres Körpers mitschwingen können (denn wo endet der Körper und wo fängt er an?). Während die Grenzen sich verwischen, inter-agieren die Betrachtenden als eines von vielen Phänomenen und bekommen die Möglichkeit geboten “in Sprache zu schwimmen, als ob verloren, in seinem Rauschen”.
Isabel de Sena
Berlin 2016 / 2 Video-Projektoren, 2 HD-Player, Verstärker, 4 Lautsprecher (15:00 Min.)
Testimonials – Ralph Schulz (Kulturbahnhof)
Alle erzählen sie von einem Kunstwerk, von dessen absolut umwerfendem Charakter, dessen Wucht. Lässig und casual bis ernstlich-seriös vertrauen sich „normale“ Menschen oder selbsternannte Expertinnen und Experten mit ihren individuellen Einschätzungen der Webcam an. In ihren Lobpreisungen des Kunstwerks ringen sie um Worte, geraten immer wieder ins Stocken, bleiben unkonkret. Unzulänglich scheint jeder Versuch einer verbalen Annäherung an dieses „absolutely amazing piece of art“, das in seiner Beschreibung bis zuletzt höchst unterbestimmt bleibt. Die Erzählungen wirken frisch, spontan, unmittelbar: Gleich auf der Rückfahrt des Ausstellungsbesuchs und noch im Auto, aus der lauschigen Ecke des Balkons oder vom Bürosessel aus, formulieren die Sprecher/innen ihre einstimmig positiven Eindrücke. Mit jeder einzelnen Sequenz steigert sich unweigerlich der Drang, – wenn schon nicht das Kunstwerk in Gänze und mit eigenen Augen sehen zu können – so doch wenigstens einen kleinen, konkreten Hinweis zu erhalten, um welches Kunstwerk es sich handelt. Doch vergebens: Über acht Minuten zeigt TESTIMONIALS nichts anderes als die schlichte Aneinanderreihung der indefiniten Kunstwerk-Rezensionen.
Unter Wirtschaftsforscher/innen gelten authentische Kundenrezensionen (engl. Testimonials) insbesondere im Feld des Onlinehandels als eine der fruchtbarsten Maßnahmen in der Vermarktung von Produkten und Services. Seine enorme Wirksamkeit hat das Testimonial selbst zu einem Produkt gemacht, das Unternehmen seither systematisch einkaufen, um den Verkauf eigener Produkte zu steigern. Produziert werden diese Fake-Rezensionen nicht nur von professionellen Agenturen, sondern auch – und dies in weit größerem Maßstab – von einem Heer weltweit verteilter, selbstständig agierender Einzelpersonen, für die das Fingieren von Kundenbewertungen eine zusätzliche Einnahmequelle darstellt. Genau hier setzt Ralph Schulz’ TESTIMONIALS an: Realiter handelt es sich bei allen Filmsequenzen um vom Künstler selbst in Auftrag gegebene Video-Rezensionen. Über das Internet ließ Schulz den bezahlten Rezensent/innen von ihm verfasste Texte sowie weitere Anweisungen zum gewünschten Erscheinungsbild der Video-Rezension zukommen. Für ihr Video, das sie dem Künstler als Download bereitstellten, erhielten die Rezensent/innen jeweils zwischen 5$ und 25$.
Zum Vorschein tritt damit das ironisch-paradoxe Gerüst der Videoinstallation TESTIMONIALS. Da ist kein vorgängiges Kunstwerk, auf das die Beschreibungen tatsächlich Bezug nähmen. Das Je ne sais quoi der Videos ist nicht lediglich geschauspielert, es ist zugleich beim Wort zu nehmen: „Was“ sie sprechen, wissen die Rezensent/innen wahrhaftig nicht. Im Glauben, ein bestehendes Produkt wie gewöhnlich und nach alter Logik zu rezensieren, produzieren sie zuallererst das Produkt, das Kunstwerk, das sie zu beurteilen meinen. (Selbst)ironisch fallen Produktion und Rezension in eins. In seiner tautologischen Form stellt TESTIMONIALS eine präzise, humorvolle und gleichzeitig kritische Analyse gegenwärtiger Verwicklungen zwischen Kunst und Markt unter den medialen Modalitäten des Internets an.
Vivien Grabowski
Berlin 2016 / Video-Projektor, HD-Player, 2 Kopfhörer (08:00 Min.)
SPOTS Audiovisuelle Mikro-Interventionen zum TRIBUNAL NSU-Komplex auflösen und darüber hinaus – Spoter/innen (Kulturbahnhof)
Wie können wir das Feld des Sichtbaren so verändern, dass rassistische Strukturen anklagbar und (post)migrantische Realitäten und Perspektiven unübersehbar und unüberhörbar werden?
Zwischen 1999 und 2007 werden in Deutschland neun migrantische Kleinunternehmer und eine Polizistin ermordet. Bei drei Bombenanschlägen – u.a. auf eine migrantisch geprägte Geschäftsstraße in Köln – werden zahlreiche Menschen schwer verletzt. Die Taten bleiben unaufgeklärt bis sich 2011 der sogenannte Nationalsozialistische Untergrund (NSU) selbst enttarnt und zu den Taten bekennt. Bis heute ist die Mord- und Anschlagsserie nicht vollständig aufgeklärt. Offene Fragen gibt es unter anderem zum rechtsradikalen Umfeld des NSU, sowie zur Rolle des Verfassungsschutzes, der zahlreiche Informanten im Umfeld der Täter hatte. Deutlich geworden ist hingegen, wie tief Rassismus in Deutschland verankert ist. Nicht zuletzt innerhalb der jahrelang konsequent in die falsche Richtung ermittelnden Polizei- und Sicherheitsorgane, für die Rassismus als Tatmotiv angeblich über all die Jahre nicht erkennbar war und selbst jetzt noch kleingeredet wird.
SPOTS sind kurze audiovisuelle Interventionen zu Facetten des NSU-Komplexes, die unter anderem zur Mobilisierung für das Tribunal auflösen entstanden. Sie thematisieren die „blind spots“ in der Aufarbeitung des NSU-Komplexes. Sie werfen „spotlights“ auf die rassistischen Verhältnisse, welche rechte Netzwerke und deren Taten erst möglich machen. SPOTS verstehen dabei Ästhetik als politisches Handeln. Sie setzen der dominanten, täterfixierten Bildpolitik und den medialen Überschreibungen rund um den NSU-Komplex etwas entgegen. Sie drehen Sichtbarkeiten um, stellen Widerstandsgesten dar, formulieren Fragen und Anklagen. Und wollen so eine breitere gesellschaftliche Debatte anstoßen.
http://nsu-tribunal.de
http://tribunal-spots.net
Berlin 2017 / Monitor, Computer, Maus, Tastatur
She Remembered Caterpillars – Daniel Leander Goffin, David Priemer, Cassandra Khaw, Christian Wittmoser, Thomas Höhl, Zach Cohen (Kulturbahnhof)
SHE REMEMBERED CATERPILLARS is a color-matching puzzle game with an unsettling fungipunk aesthetic. Set in a phantasgamorphic world of writhing caterpillars, brightly colored Gammies, and living architecture, the game will have players eavesdropping on what appears to be one scientist’s quest to save her father.
Developer: jumpsuit entertainment UG, Daniel Leander Goffin, David Priemer, Cassandra Khaw, Christian Wittmoser, Thomas Höhl, Zach Cohen
published by Ysbryd Games
GlassBook / GlassPhone – Tilman Hornig (Kulturbahnhof)
Man muss den Philosophen Quentin Meillassoux, einen der vehementesten Realisten der Gegenwart, berichtigen: Real ist nicht, was sich in Formeln ausdrucken lasst. De facto real ist, was in Computern prozessiert werden kann. Wo der Computer versagt, versagt auch unser Horizont einer verbindlichen Wirklichkeit – alles daruber hinaus ist „blos subjektiv“. Erst die digitale Archivierung und Normierung sozialer Kontakte auf Mikrochips erzeugt stabile, weiterverfolgbare Bekanntschaften. Erst die Erfassung und der Vergleich unserer Daten durch medizinische Computer macht es moglich, von Gesundheit zu sprechen. In einigen Staaten berechnen Computer schon eigenstandig die Wahlergebnisse. Wegen ihrer Unverzichtbarkeit in der modernen Physik definieren sie auch das, was wir fur die reale Welt halten.
Ontologisch gesehen „sind“ Computer, wie Heidegger dies uber das Sein sagte, gerade wegen ihrer zentralen Bedeutung – d. h. weil sie heute erst jedes denkbare Sein bedingen und diesem vorangehen –, uberhaupt nicht. Es gibt sie lediglich als ein unsichtbares Gegebenes, das alles durchdringt. Als universales Medium entsprechen sie dem, was Aristoteles das Diaphane, das „Durchlassige“ nannte, ein unbestimmtes „Dazwischenliegendes“, Metaxu, das gerade deswegen formlos sein muss, um alle moglichen Eindrucke aufzunehmen und zu transportieren. Auch einem Bild der Stoiker entspricht die Bedeutung des Computers, dem Apeiron, dem „Unbegrenzten“, das als Urstoff die Moglichkeit jedes anderen Stoffs beinhaltet und gerade deswegen selbst keinerlei Qualitaten, Eigenschaften hat.
Nicht umsonst ist Transparenz das Ethos unserer Zeit. Hier hat sich die ontologische Durchlassigkeit des Computers zum Masstab dafur gemausert, wie wir menschliche Beziehungen und Politik organisieren. Vor der totalen Durchlassigkeit des digitaldiaphanen Urstoffs wird alle Information gleichsam form- und kontextlos zum blosen Content im Internet. Dabei scheint der Content gerade nichts zu beinhalten, sondern ebenso formlos, auf erhabene Weise leer wie der Computer selbst.
Vor allem aber ist Content kein Inhalt, da es ohne Kontext keinen Inhalt gibt. Und der Computer kennt nur einen Kontext: sich selbst. Der Grosteil digitaler Nachrichten beschaftigt sich mit der Apparatur selbst. Wie nutzlos ist das neue Apple iPhone? Oder brennt Samsung doch schneller? Mit welchen neuen Funktionen bedroht Facebook unsere Privatsphare noch offensichtlicher? In welche Kryptowahrung sollte man heute investieren und das Geld vor dem unweigerlichen Kollaps abziehen? Welche Anderungen werden sich ergeben, wenn 3D-Drucker im Kinderzimmer Schusswaffen produzieren? McLuhans bekannter Satz, dass das Medium die Nachricht sei, war nie in einem totaleren Sinne wahr. Der Content des Internets ist die ontologische Nichtigkeit des Computers und nichts Anderes. Auf das Nichts von einem Logenplatz aus und in moglichst brillanter Farbqualitat zu schauen: Dies ist der Traum unseres Zeitalters.
Johannes Thumfart
Dresden 2017 / Glasobjekte, Sockel
GlassBook / GlassPhone – Tilman Hornig (Kulturbahnhof)
Man muss den Philosophen Quentin Meillassoux, einen der vehementesten Realisten der Gegenwart, berichtigen: Real ist nicht, was sich in Formeln ausdrucken lasst. De facto real ist, was in Computern prozessiert werden kann. Wo der Computer versagt, versagt auch unser Horizont einer verbindlichen Wirklichkeit – alles daruber hinaus ist „blos subjektiv“. Erst die digitale Archivierung und Normierung sozialer Kontakte auf Mikrochips erzeugt stabile, weiterverfolgbare Bekanntschaften. Erst die Erfassung und der Vergleich unserer Daten durch medizinische Computer macht es moglich, von Gesundheit zu sprechen. In einigen Staaten berechnen Computer schon eigenstandig die Wahlergebnisse. Wegen ihrer Unverzichtbarkeit in der modernen Physik definieren sie auch das, was wir fur die reale Welt halten.
Ontologisch gesehen „sind“ Computer, wie Heidegger dies uber das Sein sagte, gerade wegen ihrer zentralen Bedeutung – d. h. weil sie heute erst jedes denkbare Sein bedingen und diesem vorangehen –, uberhaupt nicht. Es gibt sie lediglich als ein unsichtbares Gegebenes, das alles durchdringt. Als universales Medium entsprechen sie dem, was Aristoteles das Diaphane, das „Durchlassige“ nannte, ein unbestimmtes „Dazwischenliegendes“, Metaxu, das gerade deswegen formlos sein muss, um alle moglichen Eindrucke aufzunehmen und zu transportieren. Auch einem Bild der Stoiker entspricht die Bedeutung des Computers, dem Apeiron, dem „Unbegrenzten“, das als Urstoff die Moglichkeit jedes anderen Stoffs beinhaltet und gerade deswegen selbst keinerlei Qualitaten, Eigenschaften hat.
Nicht umsonst ist Transparenz das Ethos unserer Zeit. Hier hat sich die ontologische Durchlassigkeit des Computers zum Masstab dafur gemausert, wie wir menschliche Beziehungen und Politik organisieren. Vor der totalen Durchlassigkeit des digitaldiaphanen Urstoffs wird alle Information gleichsam form- und kontextlos zum blosen Content im Internet. Dabei scheint der Content gerade nichts zu beinhalten, sondern ebenso formlos, auf erhabene Weise leer wie der Computer selbst.
Vor allem aber ist Content kein Inhalt, da es ohne Kontext keinen Inhalt gibt. Und der Computer kennt nur einen Kontext: sich selbst. Der Grosteil digitaler Nachrichten beschaftigt sich mit der Apparatur selbst. Wie nutzlos ist das neue Apple iPhone? Oder brennt Samsung doch schneller? Mit welchen neuen Funktionen bedroht Facebook unsere Privatsphare noch offensichtlicher? In welche Kryptowahrung sollte man heute investieren und das Geld vor dem unweigerlichen Kollaps abziehen? Welche Anderungen werden sich ergeben, wenn 3D-Drucker im Kinderzimmer Schusswaffen produzieren? McLuhans bekannter Satz, dass das Medium die Nachricht sei, war nie in einem totaleren Sinne wahr. Der Content des Internets ist die ontologische Nichtigkeit des Computers und nichts Anderes. Auf das Nichts von einem Logenplatz aus und in moglichst brillanter Farbqualitat zu schauen: Dies ist der Traum unseres Zeitalters.
Johannes Thumfart
Dresden 2017 / Glasobjekte, Sockel