Ausgewählt wurden die 57 Langfilm-Beiträge in diesem Jahr aus über 500 Einreichungen. Einvernehmliche Kriterien, welche die endgültige Programmauswahl prägen, sind die politische, soziale und kulturelle Relevanz der Themen sowie die filmkünstlerische Bearbeitung der eingereichten Beiträge. Neben klassischen Darstellungsweisen sollen seit jeher durch die Präsentation innovativer Formate vermeintliche Grenzen des Genres sowie die Macht, Manipulierbarkeit und Manipulationskraft der Bilder zur Diskussion gestellt werden. Zudem erhalten Low- oder No-Budget-Produktionen und Nachwuchsarbeiten sowie neue Projekte alt bekannter Filmemacher/innen auf dem Kasseler Dokfest in den Sichtungen besondere Aufmerksamkeit. Denn dokumentarfilmische Schaffensprozesse kontinuierlich zu begleiteten, ist uns ebenso ein Anliegen, wie den Perspektiven mutiger und außergewöhnlicher Projekte eine Plattform zu bieten.
Verantwortlich für die Auswahl zeichnen die Mitglieder der Sichtungskommission, welche sich aus fünf Personen mit unterschiedlichen professionellen Hintergründen zusammensetzt. Neben ihrem Interesse am politischen und kulturellen Weltgeschehen und der Neugier auf mutige und unkonventionelle (Lebens-) Geschichten vereint die Gruppe eine cineastische Obsession für den dokumentarischen Film in all seinen inhaltlichen und ästhetischen Gestaltungsformen sowie die Freude an leidenschaftlichen Diskussionen über die besten Dokumentarfilme für das Kasseler Filmfest.
Jedes Jahr besuchen die einzelnen Kommissionsmitglieder diverse nationale und internationale Festivals und Branchentreffs. Hier gilt es, sich einen Überblick über neueste Produktionen zu verschaffen und Kontakte mit Filmschaffenden zu pflegen, bevor in den Spätsommermonaten die Gesamtsichtung der jährlichen Einreichungen erfolgt.
Selbstverständlich kann aus der zunehmenden Fülle herausragender Arbeiten alljährlich nur ein Ausschnitt gegenwärtigen Dokumentarfilmschaffens gezeigt werden, der formal und inhaltlich ein möglichst breites Spektrum abdecken und während der Festivaltage ein ebenso breites Publikum erreichen soll.
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Sind wir denn von allen guten Geistern verlassen? Man könnte es meinen, in Anbetracht der Themen eines beträchtlichen Teils der erneut mehr als fünfhundert Einreichungen des Jahrgangs 2016, deren Stimmungsbild sich an den sechs Festivaltagen in rund vierzig Langfilmen repräsentiert. Überall auf der Erde finden sich reale Geschichten, Begebenheiten und Ereignisse die den Eindruck erwecken, neben all den Gesichtern, denen wir Verantwortung zuschreiben, lenken zunehmend unsichtbare Mächte den Lauf der Welt, das Schicksal von Menschen und Gemeinschaften. Das wäre bequem und entlastend. Aber es sind keine überirdischen, mystischen Kräfte, die wirken. Es ist der Geist – die Gedanken und das Handeln – eines/r jeden/r Einzelnen, die den Lauf der Welt mitprägen. Zuviel Pathos? Oder Überforderung? Zurecht!
Wie kommt es, dass eine indische Mutter den Tod ihres Kindes selbst aufklären muss und am Ende doch kläglich scheitert (CECILIA), dass im Kosovokrieg grausame Massaker als abgekartetes Spiel verübt werden konnten (DUBINA DVA), dass in den Vereinigten Staaten von Amerika traumatisierte Ex-Soldat/innen im Stich gelassen werden (National Bird), die Militarisierung und überwachungsstaatliche Aufrüstung der Polizei im Sinne der Interessen der Rüstungsindustrie legimitiert und symbolträchtig forciert werden, weil das Anzeigen sozialer, integrierender, gemeinschaftsorientierter Missstände direkt als Angriff auf die Demokratie interpretiert wird (DO NOT RESIST)?
Wieso führen uns die Mitglieder eines afrikanischen „Naturvolks“ die hässliche Fratze westlicher Lebensweisen vor, und warum müssen uns ein Historiker, ein Börsenmakler und ein Politiker noch einmal in aller Deutlichkeit die Zusammenhänge der sich zuspitzenden Schieflage in Europa erläutern (GHOSTLAND, EUROPA – EIN KONTINENT ALS BEUTE)?
Warum ist es dringend notwendig, dass uns Philip Scheffner über 90 Minuten ein Flüchtlingsboot auf dem Meer zeigt, um uns gepaart mit eindringlichen Erzählungen aus dem Off das Hinhören und Hinsehen wieder bewusst zu machen (HAVARIE)?
Weshalb ist das Ankommen in einem Wohlstandsland, dass doch Sicherheit und Perspektiven verspricht, so schwer (TALES OF TWO WHO DREAMT, NO MAN IS AN ISLAND, FERNE SÖHNE)?
Warum empören wir uns nicht völlig selbstverständlich, über die Abschiebepraktiken oder den Umgang mit langzeitarbeitslosen Menschen von deutschen Behörden (DEPORTATION CLASS, IN DER MASSNAHME)?
Trotz all der brodelnden und bedrohlichen Situationen unserer Zeit, muss unsere Aufmerksamkeit nicht beispielsweise auch einem stinkreichen Schauspieler, nackten Künstlern und einem zwar sehr musikalischen, jedoch ungemein despotischen Patriarchen gelten (DAS GROSSE GLÜCK, WHAT EVER HAPPENED TO GELITIN, THE WONDERFULL KINGDOM OF PAPA ALEV)?
Denn: Sind das nicht alles Teile des großen Puzzles, Geister, die unsere Gemeinschaften prägen? Und braucht es nicht auch die Entdeckungen von verhältnismäßig Banalem, um daraus Träume oder Ideen, Hoffnungen zu schöpfen? Salomé Jashi gelingt es in ihrem Portrait einer georgischen Kleinstadt meisterlich, an die Faszination des Alltäglichen und das Potential vom Miteinander zu erinnern (THE DAZZLING LIGHT OF SUNSET).
Geister ziehen umher. Soziale Praktiken, ökonomisches Profitstreben und gewaltsame Konflikte sind die Produkte denkender und handelnder Menschen. Und es gilt die eigenen Positionen und die Gesinnungen anderer zu hinterfragen und zu entschlüsseln; im Bewusstsein von Fluch und Segen des Informationszeitalters (GRUNDRAUSCHEN, IN LIMBO, A LEAK IN PARADISE). Und weil wir alle direkt oder indirekt Teil der Geschichte(n) sind, gilt es dem zu begegnen – nicht ohnmächtig, sondern aufmerksam, neugierig und aktiv.
Geht das – bei aller Ernsthaftigkeit und Dringlichkeit – auch mit einer gewissen Leichtigkeit? Das ironische Schreckgespenst der vermeintlich finalen Gentrifizierung im Hamburger Schanzenviertel liefert ebenso Inspiration, wie die Rastafari in Jamaikas Hauptstadt Kingston (MACHT UND FREIHEIT, KINGSTON CROSSROADS).
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