Kämpferische Wurzeln
30 Jahre Kasseler Dokfest
Es war die Zeit der großen Demonstrationen und lautstarken Auseinandersetzungen. Hier wurde gegen den Bau der Startbahn West am Frankfurter Flughafen demonstriert, und dort kämpfte die sich formierende Umweltschutzbewegung gegen den Ausbau der Atomindustrie. Doch alles wurde überschattet von der Auseinandersetzung um die Friedensbewegung, die Hunderttausende gegen den Nato-Doppelbeschluss mobilisieren konnte, der den letzten Höhepunkt des Kalten Krieges im damals noch geteilten Europa markierte. Viele Bundesbürger waren nicht länger bereit, alles als gegeben und unumstößlich hinzunehmen. Das Wort von den Wutbürgern gab es noch nicht. Aber die unverdächtigen Menschen, die plötzlich Mut fassten und sich gegen Fehlentwicklungen erhoben, hätten den Namen verdient. Jenseits der Demonstrationen suchten sie Räume und Plätze, um sich auszutauschen und anderen in Wort und Bild von den Entwicklungen und Widerständen zu berichten. Ein wichtiges Medium war (und ist) dabei der Dokumentarfilm, der, da er sich weder im öffentlich-rechtlichen Fernsehen noch im Kino einen Platz erobern konnte, für eine Art Untergrundkino stand.
Daher überrascht es nicht, dass es Filmemacher und Produzenten waren, die im Herbst 1981 anregten, dem stiefmütterlich behandelten Dokumentarfilm mehr Beachtung zu schenken. Sie schlugen vor, ein konzentriertes Angebot an Dokumentarfilmen zusammenzustellen und auf Reisen zu schicken. Im Januar/Februar1982 war es soweit: Das Reisende Dokumentarfilmfest wurde aus der Taufe gehoben. Erlenbach, Kassel und Hannover waren die Stationen.
Erst ein halbes Jahr zuvor hatte an der Goethestraße der Filmladen als Programmkino seinen Betrieb begonnen. Er hatte es nicht leicht in einer Stadt, deren Kinolandschaft von einem Monopolisten beherrscht wurde, der der schlichten Unterhaltung den absoluten Vorrang gab. Mit der Beteiligung am Reisenden Dokumentarfilmfest konnte das Filmladenteam zeigen, welche völlig andere Art von Kino denkbar war. Da der Filmladen sowieso ein krasser Außenseiter war, spielte es keine Rolle, dass das vom 22. bis 24. Januar 1982 präsentierte Programm mehr parteilich-kämpferisch als ästhetisch-sachlich angelegt war. Im Untertitel auf dem siebenseitigen, hektographierten Programm war zu lesen: „Filme gegen Faschismus, für Frieden, über Hausbesetzung, gegen Umweltzerstörung, gegen Atomkraft“. Das war eine politische Kampfansage, unter die Politiker nicht unbedingt ihre Geleit- und Grußworte gesetzt hätten. Immerhin wurden damals Filme gezeigt wie „Keine Startbahn West“ (Thomas Frickel) oder „Breker oder: Nichts gelernt“ (Detlef Gumm/Hans-Georg Ulrich) oder „Züri brännt“ (Videoladen Zürich), die mittlerweile zu den Klassikern dieses Genres gehören.
Das Reisende Dokumentarfilmfest blieb eine Eintagsfliege. Doch die lebhafte Resonanz des Kasseler Publikums ermutigte das Filmladenteam, auf eigene Faust weiterzumachen und das Filmfest in Kassel zu verankern. Zwar sollten zwei Jahre vergehen, bis das „2. Kasseler Dokumentarfilm-Festival“ in der Zeit vom 18. bis 22. Januar 1984 zu erleben war, doch schon damals wurden in der vergleichsweise bescheidenen Veranstaltungsreihe Strukturen geschaffen, die bis heute spürbar sind: Aus dem Wochenendangebot war ein Festival geworden, das von Mittwoch bis Sonntag lief; es wurden thematische Schwerpunkte gesetzt („Frauenfilme aus der III. Welt: Wie es Frauen sehen“ und „Porträtfilme“), und neben politisch engagierten Filmen wurden auch Meisterwerke wie Bunuels „Las Hurdes – Erde ohne Brot“ (1932) gezeigt. Das Medium Dokumentarfilm und seine Gestaltungsmöglichkeiten standen nun im Mittelpunkt. Das war die Basis, auf der sich langfristig ein Festivalprogramm etablieren konnte. Und sieht man von den historischen Beiträgen wie dem Bunuel-Film ab, kamen nach Kassel durchweg Neuproduktionen, die von den Produzenten vorgestellt wurden.
Trotzdem war das Kasseler Filmfest ein zartes Pflänzchen, das im langen Schatten der Kurzfilmtage Oberhausen und auch dem Leipziger Dokumentarfilmfest stand. Doch der Aufbruch in die nationale und sogar internationale Filmöffentlichkeit kündigte sich bereits 1984/85 an, als das „3. Kasseler Dokumentarfilm-Fest“ für die Zeit vom 23. bis 27. Januar 1985 vorbereitet wurde. Da verschickte nämlich der Filmladen erstmals Ausschreibungen zur Teilnahme an dem Filmfest. So wurde der Weg zum Forum für Erst- und Uraufführungen erschlossen. Tatsächlich wurden 40 Dokumentarfilme eingeschickt, sechs mehr, als dann gezeigt werden konnten. Das Dokumentarfilmfest etablierte sich. Es gab ein ausführliches Programmheft mit 42 Seiten im A5-Format und das erste Grußwort vom damaligen Oberbürgermeister Hans Eichel. Das Planungsteam erhielt im Programmheft Namen: Irmhild Scheuer, Frank Thöner und Burkhardt Hofmann. Und es gab den ersten Versuch, dem neuen Medium Video gerecht zu werden, indem für Gerd Conradts Videoband „Der Videopionier“ der Filmladen in ein Wohnzimmer mit mehreren Fernsehgeräten verwandelt wurde.
Video, das war die neue, emanzipatorische, sozusagen demokratische Technik, mit deren Hilfe sehr viel einfacher und kostengünstiger Filme produziert werden konnten als mit der materialaufwändigen Kameratechnik. Der Begriff Video stand aber auch für ein neues Filmbewusstsein. Denn bevor die Videorekorder die deutschen Wohnzimmer eroberten, hatten Künstler bereits in den frühen 70er Jahren vorgeführt, wie kreativ und medienkritisch man damit umgehen kann. Viele Filmer beharrten auf der traditionellen und in gewisser Weise elitären Technik. Zum Glück aber erkannten die Festivalplaner frühzeitig, welche wichtige Rolle das Video künftig spielen werde. Inzwischen sind im Zeitalter der Digitalisierung die Grenzen zwischen den beiden Medien sowieso längst aufgehoben.
Den ersten Schritt zur programmatischen Öffnung für die in der Videotechnik hergestellten Dokumentarfilme und für die Videokunst vollzog das „6. Kasseler Dokumentarfilm-Fest“ im Jahr 1989, indem es im Café Vis à Vis ein Videoprogramm präsentierte. Wie ganz am Anfang beim Dokumentarfilm überhaupt wurzelten viele der gezeigten Videoproduktionen im politischen
Kampf. Die Videomacher gingen aus Medienwerkstätten hervor, die sich mit Alltagserfahrungen auseinandersetzten. Folglich gehörte „Eine kleine Einführung in die Geschichte der Videobewegung in der BRD“ zum Bestandteil des Programmheftes. Aber man hatte auch die Kunst im Blick: Im Messinghof und am Holländischen Platz wurden Videos der Studenten der Visuellen Kommunikation in der Gesamthochschule Kassel vorgeführt. Wie schnell sich die Szene wandelte und welche Entwicklungsschübe die Videoproduktionen erlebten, dokumentiert das Programmheft zum 7. Dokumentarfilmfest im Jahr 1990: Etwa die Hälfte der Ankündigungen betrafen die Videoproduktionen. Dokumentarische Videos waren da genauso zu sehen wie Filme, die die Grenzen des Mediums erkundeten, die mit Comics spielten oder mit der Auflösung des Bildes. Das traf sich gut, da im klassischen Kunstbereich immer mehr Kreative sich dem Video verschrieben und mit den Mitteln der Technik diese in Frage stellten.
Die Geschichte des Kasseler Dokumentarfilm- und Videofestes lässt sich leicht als eine Erfolgsgeschichte erzählen. Doch zwischendurch gab es auch Nackenschläge. So musste das Kasseler Dokfest, wie es in der Kurzform heißt, 1988 aus Geldmangel abgesagt werden. Die Situation war bedrohlich, und eine zweite Absage wäre tödlich geworden. Heute ist das Festival zu groß und verfügt über zu viel Strahlkraft, als dass es einfach untergehen könnte. Gleichwohl bleibt das Festival immer auf öffentliche Förderung angewiesen. Es ist zu hoffen, die Politiker, die mittlerweile regelmäßig Grußworte für das Programmheft schreiben, sind sich dessen bewusst, dass ihre bekundete Anerkennung auch dauerhaft materiell untermauert werden muss. Die beständige Finanzierung ist auch deshalb notwendig, weil im Laufe der Jahre das Festival im Bereich des Dokumentarfilms und der Videoproduktion zu einem internationalen Forum geworden ist, in dem nicht nur neue Filme vorgeführt werden, sondern das auch Trends aufzeigt und Maßstäbe setzt. Die seit 2001 vergebenen Preise sind ein Beleg dafür, mit welchem Selbstbewusstsein das Festival auf dem nationalen und auch internationalen Markt agiert. Was als kleine Wochenendveranstaltung begonnen hatte, ist zum professionellen Ganzjahresbetrieb geworden. Deutlich wurde das spätestens 1999, als sich 1000 Künstler und Filmemacher um einen Platz im Programm bewarben. Diese breite Palette zu ordnen und zu sichten, beansprucht ein großes Team. Voraussetzung dafür wieder war, dass seit 1991 die Teilnahme an dem Festival international ausgeschrieben wird.
Längst ist das Kasseler Dokfest viel mehr als eine Abfolge von Filmvorführungen. Von Anfang an gehörten Diskussionen mit den Filmemachern dazu. Daraus wurden Gesprächsreihen und Tagungen, die weit über das Gezeigte hinausgehen. Nicht weniger wichtig ist, dass unterschiedliche Veranstaltungsformate dazu beitragen müssen, dass neben die Information die Kurzweil tritt. Und dass das ausgeruhte Gespräch den schöpferischen Austausch befördern kann, weiß man spätestens seit 1987, als das Festivalfrühstück ins Programm kam.
Das Kasseler Dokfest hat viele Kinder hervorgebracht. Eines der wichtigsten ist die Ausstellung Monitoring, die in Zusammenarbeit mit dem Kasseler Kunstverein vornehmlich Videoinstallationen zeigt. Die Ausstellung, deren Anfänge sich mit dem Umzug der Videoabteilung 1992 ins Dock 4 verbinden, ist international hoch geschätzt. Ihre Wahrnehmung leidet nur sehr darunter, dass die Laufzeit auf die wenigen Tage des Festivals begrenzt ist.
Die 30-jährige Geschichte des Festivals ist allerdings von der Geschichte des Filmladens nicht zu trennen. Denn wenn man sich für einen Moment vorstellt, das Team hätte wie 1982 nur den kleinen Filmladen als Basis, wüsste man sofort, dass sich daraus nie ein so groß angelegtes Festival hätte entwickeln können. Die Einbettung in die Filmlandschaft, bestehend aus dem Filmladen, den beiden BALi Kinos und dem Gloria Kino, war die Voraussetzung dafür, dass für die verschiedenen Formate auch unterschiedliche Säle zur Verfügung stehen und dass für fünf Tage Kassels Innenstadt zwischen KulturBahnhof, Fridericianum, Gloria Kino und Filmladen zum Erkundungsraum jener Cineasten wird, die zwischen Dokumentation und Fiktion die Bilder unserer Zeit suchen.
Dirk Schwarze